: Bei der ÖTV stehen die Zeichen auf Sturm
Gewerkschaftstag der ÖTV: Die Basis grollt dem Vorstand wegen des Tarifabschlussesim Mai/ Aufstand gegen Chefin Monika Wulf-Mathies?/ Tarifexperte Willi Hanss will zurücktreten ■ Von Martin Kempe
Berlin (taz) — Drei Tage vor Beginn ihres Gewerkschaftstages kocht die Gerüchteküche in der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr. Seit jener denkwürdigen Woche Mitte Mai, als die ÖTV-Basis den allseits als gewerkschaftlichen Erfolg eingeschätzten, sozial modifizierten 5,4-Prozent-Abschluß per Urabstimmung mißbilligte, wagt niemand mehr eine Prognose über den Verlauf des Gewerkschaftstages: Wird der geschäftsführende ÖTV-Vorstand einen Denkzettel bekommen? Wird es gar einen Aufstand der Basis gegen die ÖTV-Vorsitzende Monika Wulf-Mathies geben? Wird es bei den Vorstandswahlen zu Protestabstimmungen kommen? Schon gestern jedenfalls warf der ÖTV-Tarifexperte Willi Hanss das Handtuch und kündigte seinen Rücktritt an.
Auch wenn die Regie von Gewerkschaftstagen in Deutschland erfahrungsgemäß besser funktioniert als es die wilden Spekulationen im Vorfeld für möglich halten — diesmal ist die Spannung vor dem Gewerkschaftstag echt. Denn die fast 56prozentige Ablehnung des von der Vorsitzenden Wulf-Mathies und Willi Hanss ausgehandelten Tarifkompromisses hat überdeutlich die tiefe Kluft zwischen Führung und Basis in der ÖTV sichtbar werden lassen. Seitdem rumort es auch im Funktionärsapparat, der zunächst das Verhandlungsergebnis überwiegend zustimmend aufgenommen hatte und jetzt die Fehler allein bei der Stuttgarter Führungsspitze der Gewerkschaft sucht.
Dort herrscht derzeit, so ein hessischer ÖTV-Funktionär zur taz, ein „Machtvakuum“. Die Zentrale ist nicht mehr in der Lage, die Diskussion innerhalb der Organisation zu steuern. Zunächst hatte sich der Hamburger ÖTV-Vorsitzende Rolf Fritsch zu Wort gemeldet, der eine strukturelle Krise der ÖTV-Tarifpolitik feststellte und schon während des Streiks eine stärkere soziale Komponente zugunsten der unteren Lohngruppen eingefordert hatte. Darauf hatte sich die ÖTV-Verhandlungsdelegation erst eingelassen, als auch von Arbeitgeberseite soziale Aspekte eingefordert wurden und die soziale Komponente damit zum Träger des Kompromisses werden konnte. Auch der hessische ÖTV- Landesvorsitzende Herbert Mai, der in den Verhandlungen selbst nach Aussagen von Teilnehmern keinen Ton gesagt hatte, räumte nach dem Urabstimmungsdebakel ein, die Stimmung an der Basis nicht richtig eingeschätzt zu haben, und forderte eine Stärkung der innergewerkschaftlichen Demokratie. Die anderen Landesfürsten der ÖTV haben sich zwar nicht so spektakulär aus dem Fenster gehängt, aber Unbehagen über den Zustand der Organisation gibt es überall.
Gleich mehrere Fehler werden der ÖTV-Spitze im Zusammenhang mit dem Tarifabschluß angekreidet:
— Die überproportionale Lohnerhöhung für die unteren Lohn- und Gehaltsgruppen ist nur einmalig und nicht strukturell wirksam. Dies hat bei vielen Mitgliedern für böses Blut gesorgt, weil sie das Gefühl hatten, hier würde von der Gewerkschaft mit falschen Pfunden gewuchert.
— Die Führung hat den Mitgliedern den Abschluß und den Abbruch des Streiks übers Fernsehen verkündet. Eine wirkliche Auseinandersetzung mit der Basis hat nicht stattgefunden. Es gab keine erkennbare Strategie für die Beendigung des Arbeitskampfes, die den Mitgliedern eine reale Mitsprache erlaubt hätte.
— Die unrealistische Rückkehr zur ursprünglichen Forderung von 9,5 Prozent nach dem Scheitern des Schlichtungsverfahrens, die bei den Mitgliedern während des Streiks unerfüllbare Erwartungen geweckt hat.
— Die konzeptionslose Fixierung der Gewerkschaft auf lineare Prozentforderungen, die den oberen Lohn- und Gehaltsgruppen systematisch größere Einkommenssteigerungen beschert als den unteren.
Zusätzlich wird dem geschäftsführenden Hauptvorstand angekreidet, er habe in der Auseinandersetzung über die Anerkennung der Dienstjahre für die Beschäftigten in Ostdeutschland im letzten Jahr eklatant versagt.
Vor all diesen diesen Mängeln verblaßt nun auch im hauptamtlichen Apparat der ÖTV, daß der Abschluß— vor der mißglückten Urabstimmung — nach fast einhelliger Einschätzung der Öffentlichkeit und auch der Großen Tarifkommission der ÖTV ein politischer Erfolg der Gewerkschaft war. In mehreren Landesverbänden, so in Niedersachsen, Hessen, Nordrhein-Westfalen und Hamburg, sollen die Delegierten auf Konflikt zum geschäftsführenden Hauptvorstand gebürstet sein. Willi Hanss kam gestern mit seiner Rücktrittsankündigung dem Ergebnis der ÖTV-Vorstandswahlen zuvor, von denen viele erwarteten, daß Hanss stellvertretend für alle anderen Verantwortlichen hinauskatapultiert würde. Schon seit Tagen wurde von Gegenkandidaturen gemunkelt, obwohl alle ÖTV-Landesfürsten abgewunken haben.
In der Stuttgarter Zentrale, so eine Mitarbeiterin zur taz, sei die Stimmung seit der Urabstimmung „gedrückt“ und nervös. Mitarbeiter nehmen schon seit Wochen keine Termine mehr an, die nicht unmittelbar mit dem Gewerkschaftstag zu tun haben. Vergeblich hat man bislang eine Person gesucht, die den Vorstandssitz des aus gesundheitlichen Gründen ausscheidenden, für Organisation zuständigen Willi Mück einnehmen soll. Die potentiellen Kandidaten halten sich bedeckt. Fest steht bisher nur, daß der geschäftsführende Hauptvorstand der ÖTV von sieben auf neun Personen erweitert wird und daß für die beiden zusätzlichen Mandate die beiden Ostfrauen Jutta Schmidt (bisher stellvertretende Landesvorsitzende in Brandenburg) und Heiderose Förster (Sachsen) vorgesehen sind. Eine Kampfkandidatur gegen die Vorsitzende Wulf-Mathies wird allgemein für ausgeschlossen gehalten.
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