Herz in den Fingerspitzen

■ Der belgische Pantomime Jeanpico gastiert im UFA-Kino

Fünfzehn Zuschauer warteten doppelt so viele Minuten lang auf so viele Hauptdarsteller, wie einem Drittel der Wartezeit entsprechen. Nein, nein, das gehört sich wirklich nicht — wo bleibt da das Fingerspitzengefühl?

Endlich, wir dürfen rein. Dann aber dauerte es nochmals drei Minuten (entsprechend der drei KritikerInnen, die im Publikum saßen), bis der Chef du spectacle auftrat (umspielt von Paolo Contes vibrierendem Comdie-Song) und seinen Hauptdarstellern mittels einer wunderbaren (aber finanziell wohl nicht ganz lohnenden) Zuschauerdivision 1,5 Zuschauer gönnte.

1,5 Zuschauer an jedem Finger! Da muß das Gefühl in den Fingerspitzen schon eine ungeheure Dichte haben, um der Leere im Zuschauerraum, dem Kinosaal in der Ufa-Fabrik, beizukommen, wohl wahr; vor allem dann, wenn es sich um eine Zehn-Finger-Show handelt.

Weitere zwei Minuten später lagen die zehn Finger, die sich praktischerweise zu zwei Fünfergruppen zusammengefunden hatten, nach einem atemberaubend flotten Strip im Bett. Eindeutige Stellung.

Kein Sinn für Romantik, dachte ich, und setzte im Kopf ein Ausrufezeichen. Aber ich sollte mich getäuscht haben. Der Belgier Jean- Pierre Collard, auch Jeanpico genannt, setzte seinen Fingerspitzen Schnuffel-Tierchen, Kuschelmuschels, Glitzerfrösche, Gackerhühnchen, Piepmätze und Glubschaugen auf, bis der vorletzte letzte Stein erweicht und das letzte Kind im Manne oder der Frau erwacht war.

Der sanfte Belgier mit den großen Augen muß ein noch größeres und vor allem gebrochenes Herz haben. Das allerdings gehört ja irgendwie zu einem Clown; aber nicht jeder Clown hat sein Herz-Wrack in den Fingerspitzen! Rein histologisch also ein brisanter Fall. Seine Fingertierchen und Kopfmenschen erleiden Schicksalsschläge in der Größenordnung der Klassiker aus Stummfilmzeiten.

Jeder Augenblick ein Schlag, jeder Herzschlag ein Leiden. Die ewigen Verlierer, sie bleiben es selbst dann noch, wenn sie uns rotzig-trotzig die Zunge rausstrecken. 60 Minuten griff Jeanpico in seine gut ausgestattete Zauberkiste (wirkungsvoller Pyro-Schnickschnack, wie zum Beispiel eine »Lebenskerze«, die der Klappermann ausmachen will, und die sich so lange wieder entzündet, bis das Gebiß klappert und das Gebein schlottert), er sorgt für die nötige Geräuschkulisse (ein Multiklangkörper zwitschert und lockt wie die VertreterInnen der halben Vogelwelt), spielt mit seinen Fingern, wie andere Däumchen drehen und verbreitet einen Humor der Melancholie, dessen Spuren einfach nicht abzuschütteln sind. Und dabei war es doch so harmlos... Petra Brändle

Jeanpico: Sans Paroles , im Kinosaal des UFA-Geländes, bis 28. Juni, täglich außer montags und donnerstags, 20.30 Uhr