Ich probe nur sehr ungern

„Nennen Sie mir einen Film, in dem es nicht um Liebe geht“: Ein Interview mit Fanny Ardant aus Anlaß der Hommage auf die Schauspielerin bei den Französischen Filmtagen in Tübingen  ■ Von Gerd Midding

Fanny Ardant wurde 1949 (nach anderen Angaben 1952) in Saumur an der Loire geboren. Sie wuchs unter anderem in Schweden und Monaco auf. Nach einem Politikstudium an der Universität von Aix- en-Provence arbeitete sie als Fotomodell und Botschaftsangestellte in London. 1974 begann sie ein Schauspielstudium in Paris und debütierte bereits ein Jahr später auf der Bühne. Seither spielte sie in Stücken von Claude, Giraudoux und Strindberg.

Nach kleinen Filmrollen brachte ihr die Fernsehserie „Les dames de la côte“ den Durchbruch; Francois Truffaut wurde auf sie aufmerksam und besetzte „das achte Weltwunder“ augenblicklich in „Die Frau nebenan“. Neben ihren Rollen für Truffaut und Resnais hat sie unter anderen mit Schlöndorff („Eine Liebe von Swann“), Scola („Die Familie“) und von Trotta („Fürchten und Lieben“) zusammengearbeitet. In deutschen Kinos war sie zuletzt in dem Psychothriller „Angst vor der Dunkelheit“ zu sehen.

Gerhard Midding: Madame Ardant, wenn ich ein Grundthema nennen sollte, das sich durch Ihre sehr wechselvolle Filmographie zieht, würde ich sagen: die leidenschaftliche Liebe in der Bourgeoisie.

Fanny Ardant: Das stimmt. Aber nennen Sie mir einmal einen Film, in dem es nicht um die Liebe geht. Das gibt es selten: einen großen Film, der nicht auf einer Liebesgeschichte basiert. Die Brücke am Kwai vielleicht. Aber sonst ist das Gerüst, die Struktur eines Films immer eine Liebesgeschichte. Was das Milieu betrifft, gebe ich Ihnen aber auch recht: das gilt für Die Frau nebenan, Eine Liebe von Swann, Das Leben ist ein Roman und viele andere.

Ich muß überlegen, ob es Ausnahmen gibt. Vielleicht meine Rolle in L'amour à mort von Alain Resnais.

Aber selbst da soll der Zuschauer doch erahnen, daß die Figur einmal in Pierre Arditi verliebt war, nicht wahr?

Das ist richtig. Aber die Position, die sie in den Gesprächen vertritt, ist nicht die romantische Liebe, sondern der Altruismus. Ich erinnere mich an einen Satz, den ich zu Sabine Azéma sage: „Es gibt keine einzigartige Liebe.“ Das war ziemlich schrecklich für mich, denn es widersprach allem, woran ich glaube. Es war für mich also eine ganz ungewöhnliche Rolle, und ich hatte die Möglichkeit, wirklich zu spielen. Sie ist eine sehr ausgeglichene Figur, lebt in Harmonie mit ihrem Mann und wird von keiner Leidenschaft verzehrt. Sie ist Priesterin und denkt vor allem an das Seelenheil, nicht an leidenschaftliche Gefühle.

Eine weitere Ausnahme ist vielleicht auch „Auf Liebe und Tod“. Das ist ja überhaupt interessant: wie gegensätzlich die beiden Figuren sind, die Sie in den beiden Truffaut- Filmen spielen!

Ja, es sind ja auch zwei sehr gegensätzliche Filme. Das war für mich als Schauspielerin ein sehr großes Geschenk, aber auch eine sehr große Herausforderung. In Die Frau nebenan spiele ich eine resignierte, lebensmüde Frau und im zweiten Film eine couragierte Krimiheldin. Dabei entwickelte sich der zweite Film aus dem ersten: trotz der tragischen Handlung mußten Gérard Depardieu und ich ständig während der Dreharbeiten lachen. Es herrschte eine ungeheuer ausgelassene Stimmung, so wie sie nur wenige Regisseure herstellen können. Und diese Ausgelassenheit brachte Francois Truffaut auf die Idee, mich als nächstes in einer Komödie mitspielen zu lassen.

Unterschied sich seine Schauspielführung in beiden Filmen?

Nicht wesentlich. Er hegte den größten Respekt für Schauspieler, für ihre Verletzlichkeit. Er behandelte die Schauspieler mit großer Zärtlichkeit, und das machte es leicht, alles Mögliche für ihn zu spielen.

Es gibt von ihm eine sehr schöne Bemerkung zu seiner eigenen Arbeit als Schauspieler. Nach jedem Take sei es ihm so ergangen wie jedem anderen Schauspieler auch: er habe als erstes den Blick einer Bezugsperson gesucht. Ergeht es Ihnen auch so?

Ja, aber das ist mir erst bewußt geworden, als ich bei einer Kollegin beobachtete, daß sie das genaue Gegenteil machte. Für sie gab es auf jedem Filmset eine Person, die sie abgrundtief haßte, auf die sie alle ihre negativen Gefühle projizierte. Einen richtigen Sündenbock also.

Für mich gibt es hingegen immer eine bestimmte Person, die mir wichtiger als alle anderen ist und die mein Vertrauen besitzt. Und genau deren Blick suche ich. Ich verstehe sehr gut, was Francois Truffaut ausdrücken wollte: Nach jeder Aufnahme fühlt man sich schutzlos, als sei man ohne Netz gesprungen. Aber ein kurzer Blick kann einen wieder auf sicheren Boden führen.

Ist Ihre Bezugsperson meist der Regisseur?

Das wechselt oft. Es hängt von den Menschen ab, nicht von ihrer Funktion.

Sind es häufig die Kameraleute? Wie wichtig ist Ihnen die Beziehung zu einem Kameramann?

Sie ist ganz entscheidend. Meist gewinne ich Vertrauen zu ihm, wenn er mir einen Ratschlag gibt: „Es ist besser, wenn Sie das Gesicht in dieser Einstellung so herumwenden.“ Oder: „Vielleicht sollten Sie diese Geste etwas anders ausführen.“ Dann merke ich, daß er aufmerksam ist, daß er seine Arbeit mit sehr viel Sorgfalt betreibt. Und wenn dann die Szene abgedreht ist und er zu mir auch einmal sagt „Die Aufnahme war wunderbar, obwohl Sie sich nicht an meinen Rat gehalten haben!“, entsteht ein Gleichgewicht, in dem ich sehr gut arbeiten kann. Ich merke, daß er sich einerseits bemüht, mich auf der Leinwand so interessant wie möglich aussehen zu lassen. Und gleichzeitig spüre ich, daß er klug genug ist, meine Spontaneität nicht zu zerstören. Vollkommen sicher fühle ich mich natürlich, wenn der Regisseur und der Kameramann eine gute Beziehung zueinander haben.

Aber ich würde nie jemanden fragen: „Sind Sie zufrieden mit mir?“ Da würde ich mich schämen. Ich hoffe immer auf ein stilles, wortloses Einverständnis. Wenn ich Zustimmung ehrhalte, bin ich natürlich glücklich darüber. Es gibt kaum ein stärkeres Gefühl, als das des Glücks, wenn einem jemand sagt, man sei gut gewesen. Besonders bei der Arbeit im Kino, denn da spielt man eine Szene einige Male, und danach ist es vorbei. Im Theater ist das anders, da spielt man Abend für Abend.

Ich finde, die Kameraleute, die Sie in das schönste Licht getaucht haben, sind Nestor Almendros (in „Auf Liebe und Tod“) und Bruno Nuytten (in „Das Leben ist ein Roman“). Passiert es Ihnen eigentlich, daß Sie überrascht sind, wenn Sie Ihr Gesicht dann auf der Leinwand sehen?

Ja, das ist manchmal wie ein Geschenk. Jede Schauspielerin möchte auf der Leinwand schöner aussehen. Aber wie ich Ihnen schon sagte: Ich würde nie darum bitten oder kämpfen, ich würde nur davon träumen, daß es ein Kameramann versucht. Gerade bei den beiden Filmen, die Sie erwähnt haben, hatte ich das Gefühl. Nestor Almendros ist ein wirklicher Poet. Bei den Dreharbeiten weiß man noch gar nicht, wie es auf der Leinwand aussehen wird. Seine Poesie entfaltet sich erst auf der Leinwand.

Die Überraschung, nach der Sie fragten, hängt aber auch damit zusammen, daß ich bei den Dreharbeiten gar keine große Kontrolle über das haben möchte, was passiert. Das würde mein Vergnügen schmälern. Und wenn ich spiele, fühle ich mich immer häßlich. Aber ich sage mir: „Ist egal.“ Dann fühle ich mich völlig frei und muß nicht auf so vieles achten. Ich freue mich natürlich wahnsinnig, wenn ich auf der Leinwand dann doch besser aussehe, aber das Gegenteil ist mir natürlich auch schon passiert. Da hatte ich das Gefühl, furchtbar auszusehen, und hab' mir die ganze Zeit gesagt: „Warum hat sich der Kerl nicht mehr Mühe gegeben?“

Mir fällt kein Film ein, in dem sie furchtbar aussahen.

Doch, doch. Da könnte ich Ihnen einige Geschichten erzählen. Aber die möchte ich lieber vergessen.

Im Zentrum der drei Filme, die Sie mit Alain Resnais gemacht haben, stand immer ein Ensemble von Schauspielern: Sie, Sabine Azéma, Pierre Arditi und André Dussolier. Wie haben Sie miteinander gearbeitet?

Ich habe nie wirklich das Gefühl, zu arbeiten. Eigentlich möchte ich meine Partner vor dem Spielen gar nicht so gut kennen, und ich probe nur sehr ungern. Der Moment des Spiels ist ein privilegierter Moment für mich, ein Moment der Wahrheit. Und von diesem Augenblick möchte ich mich mitreißen lassen. Ich möchte mein Pulver nicht zu früh verschießen.

Auch das ist im Theater natürlich anders, man spricht jeden Abend denselben Text und geht ganz anders mit seiner eigenen Interpretation um. Ich aber schätze das Risiko des Entdeckens, auch das Unbequeme daran. Ich möchte etwas in den Augen meines Gegenübers entdecken, und zwar erst im Moment des tatsächlichen Spielens. Ich habe zwei Filme mit Jeremy Irons gemacht, der ganz ähnlich arbeitet wie ich. Bei den Proben für das Licht und die Markierungen haben wir unsere Szenen ohne jegliches Gefühl durchgespielt. Aber immer dann, wenn wir „Action!“ hörten, spürten wir eine plötzliche Verwandlung. Das gefiel mir sehr, denn ich lasse mich gern überraschen — und auch erschrecken.

Bei der Arbeit für die Resnais- Filme ist es ganz ähnlich. Wir sprechen fast nie über die Rollen. Inzwischen kennen wir uns alle ganz gut, aber ein Gefühl von Routine, von Arbeit, hat sich für mich immer noch nicht eingestellt.

Resnais ist in dieser Hinsicht auch sehr eigenartig. Er spricht mit mir über all die Dinge, die man nie auf der Leinwand sehen wird. Er erzählt mir, welche Bücher, Gemälde oder Musikstücke meine Figur mag, oder er erzählt mir, welche Dinge sie in ihrer Handtasche trägt. Aber wir sprechen nie über die Gefühle der Figur. Ich frage mich regelmäßig: „Weshalb erzählt er mir das?“ Und allmählich ergeben sich aus seinen Worten dann Anregungen für meine Rolle. Ich mag das, denn er gibt mir nie das Gefühl von Regieanweisungen. Er ist sehr aufmerksam, sehr behutsam, und ohne es zu merken folge ich dem Fluß seiner Ideen und seiner Regie.

Wird es eine vierte Zusammenarbeit zwischen Ihnen geben?

Dann müßten sich aber die Beziehungen innerhalb des Quartetts wieder verändern. Denn da gab es Verschiebungen. Ich erinnere mich, daß André Dussolier in Das Leben ist ein Roman meinen Liebhaber spielte, in

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L'amour à mort war er mein Ehemann, und im letzten Film, Mélo, würdigte er mich keines Blickes! (lacht) Der dritte Film war ohnehin eher eine Freundschaftsgeste von meiner Seite. Alain Resnais wollte das Quartett wieder komplettieren, obwohl es eigentlich gar keine Rolle für mich gab. Daß ich zusagte, war ein Augenzwinkern an ihn, ich merkte, daß er den Cocktail noch einmal neu mixen wollte.

Alle drei Filme wirken „très écrit“, folgen einem Rhythmus von Stille und aphoristischen Dialogpassagen. Ich denke, das verdankt sich auch der Tatsache, daß Jean Gruault die ersten beiden geschrieben hat, der für Sie auch das Drehbuch zu „Australia“ verfaßte, in dem Sie mit Jeremy Irons spielen...

...und der viele Filme von Francois Truffaut geschrieben hat: Jules und Jim, Zwei Mädchen aus Wales, Das grüne Zimmer und andere. Ein wunderbarer, leidenschaftlicher Autor und Mensch. Er steckt voller Neugier, alles scheint ihn zu interessieren. Und wenn Sie sich seine Biographie anschauen: er war Priester, Kommunist, er wollte sich mit allem auseinandersetzen.

Seine Dialoge zeigen, daß er früher im Theater gearbeitet hat. Ich mag es, wenn ich als Schauspielerin „definitive“ Sätze zu sagen habe, wenn meine Figuren etwas mit Absolutheit behaupten, und wenn ihre Worte geschliffen und hintergründig sind. Das macht es spannend, auf das Innere der Figuren zurückzuschließen, denn meist verbirgt sich hinter diesen definitiven Sätzen große Unsicherheit: Sie sind in Wirklichkeit Hilferufe.

Ein Vergnügen, das uns deutschen Kinobesuchern meist versagt bleibt, ist es, der Diktion und den Stimmen in den Resnais-Filmen zuzuhören.

Ja, darauf legt er großen Wert. Und ich verstehe seine Haltung sehr gut, denn die Stimme ist eines der wichtigsten Instrumente im Kino. Bei einem anderen Film, den ich vor einiger Zeit mit Hanna Schygulla drehte, erging es mir ganz ähnlich wie in der Zusammenarbeit mit Resnais. Es war eine Literaturverfilmung, und deshalb war dem Regisseur vor allem der Dialog wichtig. Nach jeder Aufnahme fragte er zuerst immer den Toningenieur, ob sie in Ordnung sei, nie den Kameramann. Die Art, wie Resnais den Dialog behandelt, ist eine große Lektion für Regisseure. Zum Beispiel André Dussoliers Monolog in Mélo. Phantastisch! Und wie Resnais ihn gefilmt hat! Wenn ein Schauspieler viel zu sagen hat, ist es dumm, zu schneiden. Das stört den Zuschauer nur, das lenkt ihn vom Text ab. Und wenn man den Mut hat, nicht zu schneiden, und wenn ein Schauspieler so gut ist wie Dussolier — dann wird das Publikum zuhören. Und in Mélo gibt es wirklich nur diese ganz langsame Fahrt auf Dussolier zu, bei der Arditi und Sabine Azéma allmählich aus dem Bild verschwinden. Ich bewundere die Leistung in dieser Szene ungemein, wie auch den ganzen Film. Das Theater von Henri Bernstein (auf dessen gleichnamigem Stück Mélo beruht) schätze ich nicht sehr, es ist ein Theater des Kleinbürgertums, schwülstige Dreiecksgeschichten... das ist kein Universum, das mich interessiert als Schauspielerin. Aber im Film ist das etwas ganz anderes, denn man sieht es durch das Prisma von Alain Resnais. Und genau das ist für mich die Herausforderung: mich in die Obsession eines anderen hineinzuwagen und sie zu meiner eigenen zu machen. Resnais, Francois Truffaut, Ettore Scola, all das sind Regisseure, die einer Obsession folgen, die sich immer wieder mit bestimmten Themen auseinandersetzen. Und in der Art, wie Resnais etwas filmt, spürt man diese Obsession. Der Monolog in Mélo erinnert mich auch an die Schlußeinstellung von Providence, in der es nur John Gielgud und diesen Baum gibt. Die Langsamkeit, die Musikalität dieser Szene! Sie beweist mir, daß ich recht habe, von einer Obsession zu sprechen: wie hier ein Regisseur etwas noch weiter vorantreibt, wie er noch viel mehr wagt, als es ein anderer getan hätte. Und das ist auch die einzige Rechtfertigung, in diesem Metier zu arbeiten: Es ist ein Privileg, das man sich nur verdient, wenn man mit Leidenschaft dabei ist.