INTERVIEW
: „Die neuen Konturen sind nirgends erkennbar“

■ Werner Schulz, wirtschaftspolitischer Sprecher der Bundestagsgruppe Bündnis90/Grüne, zur Kanzlerrede

taz: Herr Schulz, haben Sie Kohls gestriges Eingeständnis von „Enttäuschungen und Rückschlägen“ als Zäsur empfunden, als Vorankündigung für die große Umverteilung von West nach Ost?

Werner Schulz: Nein, bei mir ist das so nicht angekommen. Es war bestenfalls ein pauschales Eingeständnis von Fehlern, so nach dem Motto, der Prozeß ist schwieriger, als wir glaubten, wir haben dies oder jenes vielleicht nicht richtig eingeschätzt. Aber an keiner Stelle wird einer der begangenen Fehler konkret benannt. Man gesteht in einer großzügigen Geste pauschal Fehler ein und signalisiert damit: im Grunde liegen wir doch richtig.

Also keine neuen Töne?

Nicht einer; nur die Töne selbst sind etwas leiser, etwas unsicherer geworden. Kohl war sonst wesentlich strahlender und vereinnahmender. Diesmal wirkte er eher kleinlaut und kleinmütig.

Also doch „neue Bescheidenheit“.

Wir haben gestern, am 17. Juni, eine solide Bilanz nach zwei Jahren Währungsunion und nach der Hälfte der Zeit, in der Kohl den Ausgleich der Lebensverhältnisse prognostiziert hat. Im Osten realisiert man mittlerweile, daß alles sehr viel länger dauern wird, im Westen, daß man von der Einheit mehr betroffen sein wird, als ursprünglich angenommen. Das Unbestimmte der Situation bereitet dabei die meisten Sorgen. Die entscheidenden Fragen — Sanierungspolitik, Massenarbeitslosigkeit, Neuordnung des föderalen Staatswesens, Pflegeversicherung — das alles wird seit Monaten ventiliert. Aber der Zukunftsentwurf, die neuen Konturen des politischen Staatswesens werden nirgends erkennbar.

Zumindest in Andeutungen hat Kohl den Abbau von Sozialleistungen und die Reform der Unternehmensbesteuerung angekündigt.

Dort wird die Zäsur kommen, auch wenn sie von Kohl noch nicht offen verkündet wird. Kohl hat gesagt, es gelte den Unternehmensstandort Deutschland zu verteidigen, d.h. die Unternehmen von Belastungen zu befreien. Man will dort Lasten wegbringen, wo belastet werden könnte. Andererseits wird die finanzielle Ausstattung der Bundesanstalt für Arbeit gekappt.

Wie sehen denn Ihre Vorstellungen zur Finanzierung der Einheit aus?

Wir halten den von Bundespräsident Weizsäcker vorgeschlagenen Lastenausgleich für einen gangbaren Weg. Das wurde bereits vor der Einheit angeregt, aber nicht aufgegriffen. Es handelt sich dabei nicht um eine Wiedergutmachungsleistung oder Entschädigung, sondern um eine Investition in die Zukunft. Wir müssen Geld zusammentreiben, um im Osten die ökonomische Umstrukturierung, den Ausbau der Infrastruktur, den kulturhistorischen Erhalt von Gebäuden und Städten leisten zu können. Vier Faktoren gehören zu einem solchen Lastenausgleich. Der erste Teil müßte diejenigen in die Pflicht nehmen, die ökonomisch an der Einheit profitieren. Das ist mit moralischen Appellen nicht getan, das muß gesetzlich geregelt werden. Der zweite Punkt wäre eine höhere Besteuerung der Höherverdienenden; das dritte Element wäre die Arbeitsmarktabgabe von Beamten und Selbständigen, und das vierte ist die Einbeziehung eines gerechten, horizontalen Länderfinanzausgleiches, der bereits jetzt, nicht erst schlagartig 1995, in Kraft treten müßte.

Wie ließen sich denn die versprochenen Investitionen im Osten ankurbeln?

Bisher setzt die Bundesrepublik auf Investitionszulagen und Sonderabschreibungen. An Kapital fehlt es nicht, aber nach wie vor an Bereitschaft, es im Osten zu investieren.

Rückgabe vor Entschädigung — ist das wirklich das zentrale Hindernis für Investitionen, wie es die SPD immer wieder pointiert?

Ich sehe das nicht so. Es gibt ja die Vorfahrtsregelung für Investitionswillige. Aber der Mangel an Investoren ist ja mit der Umkehrung des Prinzips nicht zu korrigieren.

Also doch staatlich finanzierte Sanierung mit Mitteln, die am Ende wohl nur über eine breite Umverteilung von West nach Ost aufzubringen sind, bei der dann auch die sozial Schwächeren im Westen zur Kasse gebeten werden?

Ich denke, jeder im Westen wird seinen Teil dazu beitragen müssen. Es wird allerdings immer schwerer, das zu vermitteln. Da hat man die einmalige Chance in der Phase der Wiedervereinigung vertan. Das ist die große Fehlleistung dieser Bundesregierung.

Bedarf es erst einer Sammlungsbewegung- Ost, um die Bundesregierung zu einer Zäsur ihrer Einheitspolitik zu veranlassen?

Für mich ist das Projekt einer Sammlungsbewegung ein chronischer Fall von Bewußtseinsspaltung, wenn ich daran denke, daß Peter-Michael Diestel oder Lothar de Maizière Mitverantwortung für den Einheitsprozeß tragen. Sie haben die Probleme gerade nicht wahrgenommen. Eine ostdeutsche Frustpartei wird nichts zur Problemlösung beitragen. Nur durch gemeinsame Solidarität Ost und West kann ein Klima geschaffen werden, in dem sich die Herstellung der Einheit bewältigen läßt. Interview: Matthias Geis