: "Soziale Einschnitte sind unvermeidlich"
■ Nach zwei Jahren Schönfärberei rang sich Kohl gestern zu einem Eingeständnis durch: Der Aufschwung wird "länger dauern", und es gibt ihn nicht zum Nulltarif. Bezahlen sollen die BürgerInnen: ...
„Soziale Einschnitte sind unvermeidlich“ Nach zwei Jahren Schönfärberei rang sich Kohl gestern zu einem Eingeständnis durch: Der Aufschwung wird „länger dauern“, und es gibt ihn nicht zum Nulltarif. Bezahlen sollen die BürgerInnen: Der Kanzler kündigte Einschnitte bei den Sozialleistungen an
Der Kanzler wiederholte sein Credo: „Wir wollen deutsche Europäer und zugleich europäische Deutsche sein.“ Erst Rio, dann Europa, dann Deutschland — vier Stunden dauerte die Debatte des Deutschen Bundestages über die überraschend angesetzte Regierungserklärung Helmut Kohls.
Die SPD hatte für den 17. Juni erneut eine Aussprache zur „Lage der Nation“ gefordert. Wie schon vor einem Monat, als der Bundestag in Berlin tagte, konterte der Kanzler mit einem weiter gesteckten Thema. Im Mai erklärte er sich zu Rio, gestern lautete das Thema: „Unsere Verantwortung in der Welt“. Parlamentarier aller Gruppen und Fraktionen, Fraktionschefs, Außen- und Umweltminister verabschiedeten sich mit weltumspannenden Beiträgen in die Sommerpause — und landeten immer wieder beim aktuellen Zustand der Deutschen, voran der Kanzler selbst und der SPD-Fraktionsvorsitzende Hans-Ulrich Klose.
Mit dem Eingeständnis: „Aber es hat auch Enttäuschungen und Rückschläge gegeben. Manches wird länger dauern, als im Herbst 1990 angenommen...“, bewegte sich Kohl wiederum einen Schritt in Richtung deutschlandpolitischen Realismus. Allerdings blieb auch gestern der öffentliche Widerruf der unter der Hand längst als schwerer Fehler anerkannten Versprechungen des Kanzlers aus. Statt dessen machte Kohl eine lange Bilanz über die Katastrophenwirtschaft der alten DDR auf. Sie diente vor allem der Selbstrechtfertigung. An dieser einzigen Stelle ließ er sich zum direkten, empörten Schlagabtausch mit den SPD- Bänken ein: alle wären doch vor zwei Jahren davon ausgegangen, daß das Vermögen der DDR zur Sanierung ausreichen wird. Das habe sich „als falsch erwiesen.“
Auch zum aktuellen Zustand in den neuen Ländern machte Kohl einen Schritt zurück von regierungsamtlichen Optimismus: „Der Aufschwung Ost hat begonnen. Er muß noch an Breite gewinnen.“ Nach der Erfolgsliste von verbesserter Infrastruktur, Telekom-Rekordarbeiten und Treuhandprivatisierungen dann die große Mahnung: es fehle an privaten Investitionen. Jedoch: „Es gibt keinen Zweifel, daß verstärkte Investitionen der Schlüssel für den wirtschaftlichen Aufschwung sind.“
Weit deutlicher als vorher formulierte der Kanzler atmosphärische Ermahnungen an die Adresse der Ost- und der Westdeutschen. Er nannte den „Lohnkostennachteil ostdeutscher Betriebe“, legte den Gewerkschaften „einen behutsameren Lohnanpassungsprozeß“ nahe. Für den Westen gelte: „Zusätzliche Lasten für die westdeutsche Wirtschaft würden nach den hohen Lohnabschlüssen dieses Frühjahrs die Konjunktur ernsthaft gefährden“. Die von der SPD heftig kritisierte zweite Stufe der Unternehmenssteuerreform wird kommen — so die einzig wirklich verbindliche Aussage der Kanzlerrede. Im Westen Deutschlands, so der Kanzler ohne konkrete Folgerung, aber mit deutlicher Absicht, gäbe es die kürzesten Arbeitszeiten, das dichteste soziale Netz, das früheste Rentenalter weltweit. Die am Ende der Rede angekündigten „notwendigen Weichenstellungen“ präzisierte er nicht über Waigels Eckdaten hinaus. So läßt sich auch weiterhin nur vermuten, wo und von wem die eisernen Einsparungen bei den öffentlichen Haushalten Opfer verlangen werden.
Hans-Ulrich Klose war das zuwenig. „Wer international erfolgreich sein will, der muß zu Hause tun, was nötig und möglich ist.“ Der SPD- Fraktionschef begann seine Rede mit der Stimmung in Deutschland: „Sie ist im Osten und Westen gleichermaßen gedrückt... Verantwortlich für diesen Prozeß sind Sie, Herr Bundeskanzler. Ihr Wort von den blühenden Landschaften, Ihr Versprechen, keinem werde es schlechter, vielen besser gehen, ist schal und bitter geworden.“ Klose kritisierte besonders, daß die Regierungspolitik vielen, vor allem älteren Arbeitnehmern jede Perspektive nimmt. „Bei ABM wird gekürzt in Ost und West.“ Er forderte eine aktive Arbeitsmarktpolitik.
Die SPD verlangt vom Bundeskanzler nicht nur wegen der vergangenen falschen Versprechungen „Mut vor dem eigenen Volk“. Anders als die Regierung geht die Opposition davon aus, daß die Transferleistungen in den Osten nicht allein durch Haushaltseinsparungen finanziert werden kann. „Es geht nicht ohne eine Finanzierung, auch über Steuerhöhungen.“ Klose: „Wir glauben nicht, daß die Westdeutschen unsolidarisch sind, daß man sie nicht überzeugen kann.“ Entscheidungen, Klarheit, Verläßlichkeit — diese Tugenden verlangte der SPD-Fraktionschef deutschland- wie europapolitisch.
Nach Klose war Wolfgang Schäuble an der Reihe. Der Fraktionschef der Union attackierte die SPD in gewohnter Weise: „Die SPD- geführte Bundesregierung war in der Geschichte die größte Gefahr für die D-Mark.“ Er verlangte eine strenge Begrenzung der Ausgaben, weil bei den Steuern die Grenze der Belastbarkeit für die Wirtschaft erreicht sei, neue Leistungen wie die Pflegeversicherung könne es nur geben, wenn die Kosten anderswo gespart werden. Schäuble zu Kloses Forderung, der Kanzler möge sich zu Taten durchringen: „Ich habe gut zugehört, aber einen Vorschlag habe ich nicht gehört.“
Der Pflicht zur Grundsatzrede hatte Helmut Kohl zwei Tage vorher schon einmal genügen müssen. Aber seine „Orientierung für Deutschland“ hatte dem dumpfen Unbehagen in den eigenen Reihen und in der Öffentlichkeit nicht begegnen können. Dieser bestenfalls mäßige Erfolg war vielleicht Anlaß für die Generaldebatte des gestrigen Tages, und diesmal war die Unionsfraktion von ihrem Kanzler sehr angetan. Trotz passagenweise wortgleicher Reden: im Bundestag verbreitete der Kanzler den Tenor der Entschiedenheit. „Viele treibt die Sorge um, ob wir uns über die deutsche Einheit hinaus mit der Vertiefung und Erweiterung der Gemeinschaft sowie der Hilfe für die Länder Mittel-, Ost- und Südeuropas nicht zuviel auf die Schultern geladen haben.“ Helmut Kohl hat „durchaus Verständnis hierfür“, vor allem aber sieht er die große europäische Perspektive für die Deutschen. Nur Europa könne „Rückfällen in den zerstörerischen Nationalismus“ vorbeugen, garantiere Stabilität, Sicherheit und wirtschaftliche Entwicklung. Helmut Kohl will „eine unmißverständliche Absage an ein zentralistisches Europa, an einen bürokratischen Moloch“ und bekennt sich zu einer „Stabilitätskultur im Hinblick auf Inflation, Zinsen und Haushaltspolitik“. Wie immer das bewerkstelligt werden soll, eines gilt: „Die Bundesregierung wird deshalb den Vertrag von Maastricht ohne Neuverhandlungen den Parlamentarischen Gremien zur Ratifizierung vorlegen.“ Ein klares Wort, dem sich die SPD übrigens trotz weitergehender Forderungen an die europäische Union anschloß. Tissy Bruns, Bonn
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