Vom Kommen und Bleiben

■ In der Reihe »Miteinander Leben in Berlin« hat die Ausländerbeauftragte des Senats eine Broschüre über die Einwanderung osteuropäischer Juden herausgegeben

Berlin. In Rußland sind wir immer die Juden, das hat man uns spüren lassen. Wir hatten uns daran richtig gewöhnt, als ob eine solche Behandlung natürlich wäre. Erst hier haben wir gemerkt, wie schrecklich eigentlich diese Gewöhnung war. In Deutschland fragen die dich: Woher? Aus Rußland? Also ein Russe. Es ist egal, ob du Tatar, Ukrainer oder Kasache bist. Selbst als Juden sind wir jetzt die Russen!

Es ist der Musiker Stanislaw, der dies sagt. Er ist einer der etwa 4.000 jüdischen Emigranten, die seit Frühjahr 1990 aus der Sowjetunion nach Deutschland gekommen sind. Das Leben in Berlin sei aufregend, sagt er, aber warum er hierher und nicht nach Israel gegangen sei, weiß er nicht. Es müssen ja nicht alle dorthin, sagt er. Und sein Judentum? Ist es ihm wichtig? Der 21jährige zuckt mit den Achseln. Wir sind es einfach, sagt er.

Festgehalten hat diese Sätze die Ostberliner Schriftstellerin und Journalistin Irene Runge. Sie findet sie exemplarisch für die Unbefangenheit der jungen Juden gegenüber Deutschland. Ein Land, das mehr für sie ist, als nur ein Land der Mörder. Ihn und viele andere der Neu-Berliner hat sie in ihrer Arbeit für den Jüdischen Kulturverein kennengelernt. Die Geschichte ihrer Emigration, die bürokratischen Hürden, die zu nehmen waren, um dableiben zu können, die tastenden Versuche, sich im neuen Leben zurecht zu finden, die Normalität in den Wohnheimen und die sich allmählich verklärende Erinnerung an das russische »zu Hause« — all das hat sie aufgeschrieben.

Vom Kommen und Bleiben heißt ihre Broschüre, und gemeint ist die Emigration, die immer Abbruch und Anfang in einem ist. Und dies in einer Stadt, die schon mehrmals in ihrer Geschichte »russisch« war: Nach den Pogromen in Osteuropa Ende des 19. Jahrhunderts, in den Inflationsjahren nach dem Ersten Weltkrieg, dann während der fast vergessenen und von parlamentarischen Spektakeln begleiteten Einwanderungswelle Mitte der siebziger Jahre und eben die neue, von 1990 bis Ende 1991.

Es ist die erste Arbeit, die über die neueste Emigration der sowjetischen Juden geschrieben ist. Das ist schon für sich ein Verdienst. Aber es ist eine Arbeit, die die Emigration der Juden nach Berlin rosig anstreicht. Bis auf Vicor und Inga, die seit 1990 in einem Wohnheim in Hessenwinkel sitzen und nicht vorankommen, sind es Lebensgeschichten von Menschen, die durch den Jüdischen Kulturverein neugierig ihre eigenen Wurzeln suchen.

Es gibt jedoch mehr Institutionen, die mit jüdischen Menschen und Problemen befaßt sind, als nur der Kulturverein. Das Spektrum wäre vielfältiger geworden, hätte Irene Runge in der 56seitigen Broschüre ein Interview mit Sozialarbeitern von Hessenwinkel oder der Wohlfahrtsstelle der Jüdischen Gemeinde aufgenommen. Alleine die komplizierte Prozedur darzustellen, wer für die Ämter oder die Jüdische Gemeinde Jude ist und wer nicht, wäre ein Kapitel wert gewesen.

Erhältlich ist die mit vielen Fotos (die überwiegend das harmonische Miteinander im Kulturverein darstellen) versehene Broschüre unentgeltlich bei der Ausländerbeauftragten des Senats, Potsdamer Straße 65, Berlin30. aku