Kleine Brötchen am Runden Tisch in Tiergarten

■ Anwohner, Stadträte und Selbsthilfegruppen zogen nach anderthalb Jahren eine überwiegend positive Bilanz des Versuchs, das Leben um die Kurfürstenstraße erträglicher zu machen — auch für Prostituierte und Junkies/ Zwei Seelen in den Brüsten

Tiergarten. Was hat sich getan in Tiergarten-Süd? Sind die Spritzen auf Straßen und Spielplätzen weniger geworden, der Freierverkehr ruhiger, die Schulwege der Kinder sicherer? Oder flammt die Forderung nach einem Sperrbezirk erneut auf? Anwohner und Professionelle zogen vorgestern abend Bilanz — beim fünften Runden Tisch, der sich im April vergangenen Jahres aus der Diskussion um einen Sperrbezirk heraus konstituiert hatte.

Mit dem Forum, an dem Anwohner ebenso teilnahmen wie Prostituierte, Drogenberater und Stadträte, sollte versucht werden, das Leben im Bezirk für alle erträglicher zu machen — ohne Strich und Drogenszene zu verbannen. Dennoch verging nicht ein Treffen ohne den Ruf nach einem Sperrbezirk, »damit hier endlich Ruhe ist und unsere Kinder sich wieder frei bewegen können«. »Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust« — spürbar kämpften viele immer wieder mit dem Dilemma, gleichzeitig sorgende Eltern und aufgeklärte, tolerante Mitbürger zu sein.

Trotz aller Anfeindungen wurde über konkrete Maßnahmen konstruktiv diskutiert. Der Spielplatz am Magdeburger Platz wird inzwischen betreut, das Gebüsch ist gelichtet, die Straßenreinigung wurde verstärkt und mehr Beleuchtung angebracht. Die Kluck-/Pohlstraße wurde gesperrt, in den Schulen klärt das Bezirksamt über den Umgang mit Spritzbesteck auf. Doch den meisten reicht dies nicht. »Hier wird eh nur vom grünen Tisch diskutiert«, klagt ein junger Betriebswirt. »Geregelte Prostitution in einer abgesperrten Zone ist das einzige, was hilft.« Bei allen Bemühungen hätten Prostitution und Verkehr weiter zugenommen, berichten viele.

Einige machen in Tiergarten-Süd bereits gegen den Runden Tisch mobil. Im Kampf gegen die Drogen engagiert sich inzwischen eine »Gesellschaft zur Förderung psychologischer Menschenkenntnis« — unterstützt von der CDU-Abgeordneten Marion Kittelmann. Unter dem Titel »An der Bevölkerung vorbei« bezeichnet ein Flugblatt die Ergebnisse als »vernichtend«. Der Kreis sei von Befürwortern einer Drogenfreigabe mißbraucht worden, die »den Erhalt und Ausbau der Drogenszene fordern«. Tatsächlich hatte sich eine AG Drogen, an der auch der Landesdrogenbeauftragte Wolfgang Penkert teilgenommen hatte, für einen Ausbau der Angebote für Junkies von Spritzentauschprogrammen über Substitution bis Therapie eingesetzt.

Als »infam« wiesen vorgestern Elternvertreter wie Stadträte und Mitarbeiter der Gesundheitsverwaltung das Schreiben zurück. »Es ist weit hinter dem Diskussionsstand zurück, den wir hier einmal erreicht hatten«, so Elternvertreterin Pico Woelky. Es seien »konkrete kleine Brötchen gebacken worden«, bekräftigte auch Pfarrer Wittrowsky, Gastgeber des Runden Tisches. »Was wir erreicht haben, hat insgesamt zu keiner Entspannung geführt«, konstatierte hingegen Jugendstadträtin Ada Withake-Scholz (SPD). Als »Marktplatz« will eine Anwohnerin das Forum weiterführen. »Hier können wir mit konkreten Ansprechpartnern Diskussionen führen, die sonst im Verkehrslärm ersticken.« Der Stadtteilverein sicherte zu, auch weiterhin Stadtteilforen zu organisieren, um konkrete Maßnahmen zu erörtern, und im Gespräch zu bleiben. Vielleicht macht das Modell noch Schule: Auch rund um das Kottbusser Tor überlegen Anwohner, die Probleme im Kiez am Runden Tisch in Angriff zu nehmen. jgo