Jenseits des Turmes standen ihre Zelte

Demo in Moskau: Die Kommunistisch-Konservativen wollen mehr TV-Zeit  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Lauter ordentliche Leute! Wem das Wort „patriotisch“ ein wenig angeschmuddelt erscheint, der würde sich hier wundern. In hübschen Waschkleidern stecken ordentliche Hausfrauen, die schon ein Arbeitsleben hinter sich haben. Solide Onkelchen in gedecktfarbigen Popelinjacken, wenige Jugendliche — am ehesten Jünglinge vom Typ „Ich bin ohne Beruf, aber verdiene trotzdem ganz gut“. Im warmen Sommerwind flattern die roten Fahnen besser, und es demonstriert sich freundlicher. Nur etwa dreihundert Bürger bevölkern am Mittwoch vormittag noch das messeähnliche Gelände vor dem Moskauer Fernsehzentrum Ostankino.

Viele sind nur sympathisierende Passanten. Andere vertreten Gruppen wie die „Allrussische Kommunistische Partei (Bolschewiki)“, eine Bewegung „Die Unseren“, „Bürgereinheit“ und die „Partei der Arbeit Rußlands“. Deren Führer ist der 46jährige Journalist Viktor Ampilow. Er war seit 1972 KPdSU- Mitglied. Jetzt hat er schon die zweite Nachfolgepartei gegründet. Viel ist nicht mehr übriggeblieben von der großen Belagerungsinitiative, die vor einer Woche begonnen hatte. Ein einziges Zelt von denen, die in einer nächtlichen Aktion von den Antiterrortruppen des Innenministeriums ohne größere Gewalttätigkeiten abgetragen wurden. Und was sind die Forderungen der ProtestiererInnen? Das Minimalziel ist noch auf vielen Pappschildern zu lesen: „Zehn Minuten täglich die Nachrichten auf Alternativprogramm umschalten, und Ihr werdet mündig!“ Das Midi-Programm heißt: „60 Minuten täglich über die Situation der Werktätigen Rußlands“. Das Maximal-Programm, das eine Delegation am vergangenen Freitag von Fernsehchef Jegor Jakowlew forderte: „Eine Live-Sendung am selben Tag und fürderhin 60 Minuten täglich im Zeitraum zwischen 19 und 23 Uhr“, dazu einen Teil der technischen Ausrüstung der Anstalt, außerdem den Rücktritt der russischen Regierung. Jakowlew machte sie darauf aufmerksam, daß sie diese Frage ebenso wie den Proporz im Fernsehen im Streit mit der Regierung selbst lösen müßten. Dennoch soll nach fünfstündigen Verhandlungen zwischen den konservativ-kommunistischen Oppositionellen und Jakowlew eine grundlegende Einigung erzielt worden sein.

Die Fernziele der Patrioten sind noch deutlicher umrissen und prangen immer noch vor dem Haupteingang des Telezentrums: „Russen, achtet eure Geschichte! Es gibt 100 Millionen Russen unter der 300-Millionen-Familie des sowjetischen Volkes.“ Oder: „Die UdSSR in den Grenzen von 1985! Nieder mit Hunger, Bürgerkriegen und Chaos!“ An einem Baum hängt eine leere Wodkaflasche, dazu verkündet ein Eselskopf auf einem Plakat: „Ich grüße die Verteidiger des Weißen Irrenhauses — nieder mit der russischen Regierung des nationalen Verrates und den Totengräbern des Vaterlandes!“ Die Eselsohren zieren je ein Dollar-Zeichen und ein Judenstern. Von einem mit Blumen und Reisigbesen geschmückten Armeelastwagen tönen patriotische Lieder aus dem Zweiten Weltkrieg.

Warum der Moskauer Magistrat angesichts eindeutig verfassungswidriger Parolen der Demonstranten nicht eher gehandelt habe, fragte sich TV-Chef Jakowlew am Wochenende: „Ich kann ehrlich gesagt nicht verstehen, warum Ampilow und seine Leute das Fernsehen nicht gleich gestürmt haben. Eine kümmerlichere Exekutive kann ich mir nicht vorstellen. Offenbar hat Ampilow das Fernsehen einfach nicht nötig.“

In einer Atmosphäre, in der sich die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit nach dem Rücktritt des Moskauer Bürgermeisters Popows auf die Bauskandale und die unverhältnismäßige Bereicherung einer gewissen Schicht angesichts des Elends der Massen in der Hauptstadt konzentrierte, sei den Stadtvätern die kleine Ablenkung vor dem Fernsehturm nicht ungelegen gekommen, argwöhnen einige Zeitungskommentatoren.