DEBATTE
: Hauptstadt auf verlorenem Posten

■ Die Zukunft Berlins liegt in der „Verostung“

Wenn er auf die neue Rolle seiner Stadt als Parlaments- und Regierungssitz zu sprechen kommt, begibt sich Berlins Regierender Bürgermeister Eberhard Diepgen schon mal in Grimmsche Gefilde. Nach der „Tischlein-deck-dich-Methode“, so klagte er jüngst, würden die Bonner neue Gaben und Bequemlichkeiten fordern, ein „Knusperhäuschen“ für jeden Abgeordneten oder Bundesbediensteten, vorne der Ku'damm und hinter dem Haus den Blick auf die Ostsee. Dabei wäre es „doch gut, wenn man von Bonn und Berlin endlich sagen könnte, sie regelten die anstehenden Fragen in märchenhafter Harmonie, so wie die Glückskinder“.

Doch von solch glückseligen Beziehungen sind die beiden Städte weit entfernt. Ein Jahr nachdem der Bundestag den historischen Beschluß über seinen zukünftigen Standort gefällt hat, ist die Realisierung fraglicher denn je. Die „Sternstunde des Parlaments“ ist den meisten, die daran teilnahmen, mittlerweile schnuppe. Als hätten sie im einheitstrunkenen Zustand ein Versprechen gegeben, an das sie nicht mehr so gerne erinnert werden möchten, ergehen sich die Bonner Parlamentarier in kollektiver Selbsthinterfragung. Alle drei Wochen werden neue Umzugshemmnisse entdeckt, mal wird der Reichstag als zu klein empfunden, mal fehlen schlicht die Finanzmittel. Hinter verschlossenen Türen wird bereits über ein Moratorium sinniert.

Nach der Euphorie: Bonn spielt wieder erste Geige

Das Pathos der Grundsatzreden vom 20. Juni 1991 ist verklungen, die politischen Koordinaten haben sich seitdem wieder gen Westen verschoben. Wenn vom europäischen Haus gesprochen wird, fällt der Blick nicht ins russische Zimmer, sondern steht Maastricht über der Tür. Der Osten, auch der deutsche, erscheint aus Bonner Sicht als Krisenregion, und da wird nicht mehr integriert, sondern allenfalls interveniert. Wurde noch vor Jahresfrist von Berlins zentraler Lage in Europa gesprochen, so erkennt der Bericht, den die Bundesregierung dieser Tage zur Umsetzung des Beschlusses vom 20. Juni 1991 erstellt hat, Bonn diese Position zu und begründet damit ihr Bemühen, dort eine Reihe europäischer Institutionen anzusiedeln. Bonn, so ist in dem Bericht zu lesen, soll zu einen weiteren „politischen Zentrum“ ausgebaut werden, mit den verbleibenden Regierungsressorts als „Kristallisationskern“ für eine netzwerkartige Konzentration nachgeordneter Bundeseinrichtungen sowie weiterer Stellen im halbstaatlichen und nichtstaatlichen Bereich. Ganz unverhohlen geht die Bundesregierung davon aus, daß diese Ansiedlungspolitik „auch Einfluß auf die Verbände, Botschaften und ähnlichen Einrichtungen hat, ganz oder in Teilen in Bonn verbleiben zu können“. Die Ministerien, die entsprechend dem Beschluß der Bundesregierung vom Dezember nach Berlin umziehen, erhalten nunmehr, so ist aus Bonn zu erfahren, dort „einen zweiten Dienstsitz“. Insgesamt verbleiben am Rhein knapp 14.000 Regierungsarbeitsplätze, das sind Zweidrittel der Beschäftigten. Die Bundesregierung behält also in wesentlichen Teilen ihren bisherigen Dienstsitz bei, doch will sie immerhin, Trost für die Berliner, „als Verfassungsorgan“ ihren Sitz an der Spree nehmen.

In Berlin wurden diese jüngsten Beschlüsse des Bundeskabinetts „mit großem Befremden“ zur Kenntnis genommen. Der Bericht der Bundesregierung erweckt bei Berlins Bundessenator Peter Radunski (CDU) den Eindruck, „als gäbe es zwei Hauptstädte in Deutschland“. Womit der Senator die Lage ein Jahr nach dem Bundestagsbeschluß präzise getroffen hat. Das Lamento, das nun in Berlin anhebt, ist groß. In Bonn hinterläßt es jedoch keinen nachhaltigen Eindruck. Die Bedeutung Berlins für die Bundespolitik ist gesunken, eine neue politische Standortbestimmung wurde an der Spree nicht vorgenommen. Vielmehr weigerte sich der Senat lange Zeit, die Koordinatenverschiebung der Bundespolitik wahrzunehmen.

Mit dem Umzugsbeschluß vom 20. Juni 1991 schien die Rolle der Primadonna unter den Bundesländern weiterhin gesichert. Diesen Part hatte Berlin über Jahrzehnte in seinem westlichen Teil als Vorposten der freien Welt und in seinem östlichen Teil als Vorzeigehauptstadt der DDR gespielt. Für die beiden Rollen hatte die Stadt jeweils üppige staatliche Subventionen kassiert, die seit der Vereinigung abgebaut wurden. Berlin wird seit zwei Jahren verostet, ohne jedoch im Reigen der neuen Länder akzeptiert zu werden. Dort besteht ein historisch begründeter Vorbehalt gegenüber der Hauptstadt, der durch das eigennützige Vorgehen Berlins noch verstärkt wird. So sorgte die Stadt für Unmut bei den Ostländern, als sie beschloß, ihren Ost-Bediensteten 80 Prozent der Westgehälter zu zahlen. Begründet wurde dieser tarifpolitische Alleingang mit „der besonderen Lage der Stadt“, doch stößt diese spendable Haltung bei den neuen Ländern auf Widerstand. Da sie sich vergleichbare Besoldungen nicht leisten können, verschiebt sich dadurch die Wohlstandsgrenze lediglich von der Stadtmitte an den Stadtrand.

Der Regierende Bürgermeister Diepgen kapriziert sich nach wie vor darauf, die Interessen der Stadt im persönlichen Austausch mit seinen Bonner Parteifreunden abzusichern. Um diese gnädig zu stimmen, war er sogar bereit, im Bundesrat Theo Waigels Steuerpaket zum Durchbruch zu verhelfen und sich damit einen handfesten Konflikt mit den mitregierenden Sozialdemokraten einzuhandeln. Doch hat man ihm diesen Bärendienst nicht vergolten. Als vor zwei Wochen in der Föderalismuskommission über die Neuverteilung der Bundesinstitutionen befunden wurde, hatte Berlin wiederum das Nachsehen: Mehr als zwanzig Institutionen mit annähernd 12.000 Beschäftigten werden die Stadt verlassen, die meisten davon in Richtung Bonn. Vor der entscheidenden Sitzung der Föderalismuskommission wurde der Berliner Bundessenator noch nicht einmal zu den Kungelrunden seiner Partei geladen. Die mitregierenden Sozialdemokraten werden deshalb schon ungeduldig und fordern ein Ende „der Leisetreterei in Bonn“. SPD-Landesvorsitzender Walter Momper triezt seinen Intimkonkurrenten Diepgen seit Wochen mit der Forderung, das Land Berlin solle sich für den Lastenausgleichsvorschlag des Bundespräsidenten stark machen.

Berlin als „Deutschland im kleinen“

Dieser Vorschlag dürfte, mit der ein oder anderen Modifikation, auch die Zustimmung der Ost-Länder finden. Ein solcher Einsatz für eine stärkere Umverteilung zugunsten des Ostens wäre ein erster Schritt aus der bundespolitischen Isolation der Hauptstadt. Damit böte sich Berlin eine strategische Ausgangsstellung für die Auseinandersetzungen, die in den nächsten Jahren über die generellen Verteilungsstrukturen in Deutschland, etwa im Rahmen des Länderfinanzausgleichs, geführt werden. Ein solches Vorgehen hieße Interessenartikulation quer zu Parteiloyalitäten und entlang des Wohlstandsgrabens, der sich durch die Gesamtgesellschaft zieht. Vor einer solchen „Verostung“ scheut der Regierende Bürgermeister noch zurück. Denn er fürchtet den Konflikt mit Bundeskanzler Kohl, der sich erst dieser Tage wieder der Wohlstandsverlust-Ängste seines westdeutschen Klientels annahm. Auch Diepgen muß auf West-Empfindlichkeiten Rücksicht nehmen. Diese artikulieren sich in Berlin seit den Bezirkswahlen im Mai immer offener, denn, so diagnostizierte jüngst Klaus Landowsky: Die Lebensverhältnisse im ehemaligen Ostteil der Stadt hätten sich zwar verbessert, im Westteil hingegen seien sie schlechter geworden. Der zweite Mann in der Berliner CDU fordert denn auch, den Westen nicht durchhängen zu lassen, denn „nur ein starker Westen kann die Lebensverhältnisse im Osten anheben“. „Wir dürfen“, so sein Credo, „nicht verosten.“

Für soviel originäre Westpolitik bekam die Berliner CDU bei den Bezirkswahlen ihre Quittung, sie erzielte im Osten lediglich 14 Prozent. Noch eine Woche zuvor hatte Landowsky die beispielhafte Rolle der Stadt hervorgehoben: „Berlin ist sozusagen Deutschland im kleinen.“ Dieter Rulff