FELDFORSCHUNG AM STRAND

■ Ein pädagpgisches Traktat zur Wiederbelebung unserer gebeutelten Sinnlichkeit im Massentourismus

Ein pädagogisches Traktat zur Wiederbelebung unserer gebeutelten Sinnlichkeit im Massentourismus

VONEDITHKRESTA

Frau Gisela Wegener-Spöhring ist Pädagogin. Als neues Betätigungsfeld ihrer wissenschaftlich gewonnenen Erkenntnisse hat sie den Massentourismus entdeckt. Denn, so ihre These, der Urlaub ist vor allem die Lust auf „Körper, Sinne, Empfindungen“. Als Gegenstück zu „einer instrumentalisierten, sektionierten Sinnlichkeit in der Industriegesellschaft.“ Was jeder Urlaubssüchtige sucht und die wenigsten im massentouristischen Trubel finden, Wegener-Spöhring macht es zum Thema ihrer Arbeit Massentourismus und Pädagogik: die Sinnlichkeit. Nachdem selbst die Tourismuskritik, so Wegener-Spöhring unisono mit dem Freizeitforscher Opaschowski, „den emotionalen Erlebnisaspekt der Sehnsüchte und Träume, Erwartungen und Enttäuschungen weitgehend ausgeblendet und sich nur im Kopf abgespielt hat“.

Auf die kopflastige Kritik greift sie dennoch kräftig in ihrer Arbeit zurück. Beispielsweise auf den linken Kritiker Gerhard Armanski, der genau diesen Aspekt in den Mittelpunkt stellt: „Das bürgerliche Leben hat die archaischen Glücksmomente aus seinem gewöhnlichen Gang ausgeschlossen... Hier liegen der Mythos und die Sprengkraft des Tourismus.“ Im Gegensatz zu den forschen pragmatischen Freizeitspezialisten hat die linke Kritik allerdings nie versucht, „Mythos“ und „Sprengkraft“ oder „Sinne und Wünsche“ in ein gefälliges Urlaubspaket zu packen, das, so Opaschowski, „mit rosaroten Kunstwelten den Massengeschmack trifft“. Wissenschaftstheoretisch abgesichert, läuft dieser Massengeschmack unter dem Qualitätsmerkmal „erlebnispsychologisch wertvoll“ (Opaschowski).

Mit Erlebnispsychologie arbeiten auch die touristischen Hochglanzprospekte. Liebliche Natur im Sonnenschein, schöne Menschen, Sport, Spiel, Spannung appellieren an unser gebeuteltes Körpergefühl. Der Urlaubsdrang ist alljährlich der ultimative Versuch, wieder etwas Körper zuzulassen. Riechen, fühlen, sehen, schmecken, hören. Doch auf den ausgetrampelten touristischen Pfaden überdeckt der Geruch von Sonnenöl die Frische der Meeresbrise, zwischen den feinen Sand gerät gnadenlos der Kronkorken, der Blick ist durch Appartements verstellt, das Coq au vin schmeckt wie bei Karstadt zu Hause, und nachts knattern die Discogänger mit ihrer Honda. Fast wie gehabt. Doch trotz allem: Luxus, andere Umgebung, Sonne, Rundumversorgung und Müßiggang. Letzterer ist den Freizeitwissenschaftlern allerdings ein großes Problem: Was machen wir nur mit der massenhaften Freizeit in der immer wieder beschworenen Freizeitgesellschaft?

Wegener-Spöhring ist nun angetreten, mit ihrem wissenschaftlich- pädagogischen Instrumentarium zu helfen, den Müßiggang sinnvoll, nämlich sinnlich, zu nutzen. Sie hat sich dafür auf Feldforschung in die touristischen Hochburgen begeben, die Urlauberghettos auf Mallorca. Dort urlaubt sie mit und erfährt bei sich und anderen die zaghaften Regungen verschütteter Sinne: „Ein kleines Mädchen singt von ,Sankt Martin, der geschwind durch Schnee und Wind reitet‘. Merkwürdiger Gegensatz zu der sonnendurchglühten Küste. Aber, Kontraste sind oft reizvoll. Die Frauen singen mit, suchen den Text zu erinnern — leider ziemlich vergeblich. Man verabredet, ihn zu Hause nachzuschlagen und darüber zu korrespondieren.“

Ihre Feldforschung am Strand möbelt Wegener-Spöhring mit „hochempfindsamen Geschichten“ auf. Schließlich geht es ihr ja um die Sinnlichkeit. „Ich sehe meine Fußspuren im nassen Sand des Strandes. Wann hätte ich je meine Fußspuren betrachtet? Ich könnte hier viel lernen über Dichte der Materie, Druck, über Feuchtigkeit, über Anatomie und sicher noch vieles andere... Ich aber blicke in diesem Moment auf meine Füße, Teile meines Körpers, die ich lange nicht beachtet habe. Jetzt sehe ich meine nackten Füße — sie gefallen mir...“ So erfahren wir zwar viel über die Befindlichkeit und sinnlichen Urlaubsfreuden der Pädagogin, aber der daraus abgeleitete pädagogische Ansatz ist allenfalls rührend-naiv. „Fußspuren im Sand sehen und fühlen, Muster von Turnschuhen im Sand vergleichen, etc. ...“ Mit „besinnlichen Arrangements“ will sie „Szenarien schaffen, die Menschen bei der Verwirklichung ihrer Sehnsüchte und Wünsche helfen“. Als ehrenwertes Gegenprogramm zur Tourismusindustrie, „die bislang allein dieses Feld beherrscht“.

„Die Fußspur im Sand, der Abdruck meiner Füße“: Woher nimmt Wegener-Spöhring eigentlich die Sicherheit, ihre Befindlichkeit anderen überzustülpen? Wie kann sie annehmen, daß beispielsweise ihre Urlaubsbekanntschaft, der „Statistiker mit den Millionengeschäften“, irgendwelche Sinnesregungen gegenüber seinen Füßen hat? Ihr pädagogisches Konzept kommt daher wie Ringelpiez mit Anfassen, eine wissenschaftlich verbrämte harmlose Spielart der Animation. Man könnte es als schlicht peinlich abtun, läge Frau Wegener-Spöhring nicht im Trend der Zeit, der postmodernen Ganzheitlichkeit, als deren Apologetin sie in Ermangelung kompetenterer Ansätze hochstilisiert wird. Sie will nämlich „die Träume der Götter an einem Zipfel packen“ und „die Errinnerung an ein besseres und ganzheitliches Menschsein wachhalten“. Aphrodite, Satyr, Dionysos steh uns bei, damit ein Heer von Pädagogen nicht unsere letzten Sinnesregungen kanalisiert und zur fröhlichen Vermarktung bloßstellt.

Die aufklärerische Pädagogin will das letzte bedrohte Reservat der Sinnlichkeit, den Urlaub, kolonisieren. Im Sinne einer „Tourismuskultur mit Erlebnisqualität“ für die „Individualisierung und Humanisierung des Massentourismus.“ Umfassend clean mit einer Pädogogik fürs Vorschulalter. Ganz im Sinne unserer neuen künstlichen Freizeitwelten. So wird uns noch das letzte archaische Restgefühl ausgetrieben und in einem ganzheitlichen Urlaubspaket fest verschnürt. Wegener-Spöhring fragt selbstkritisch, ob man den Urlaub mit spröder Pädagogik überfrachten kann. Man kann es nicht. Es ist zu peinlich.

Gisela Wegener-Spöhring: Massentourismus und Pädagogik. Essays, Theorien, Gedanken zu einer gestörten Beziehung. Schneider Verlag Hohengehren 1991, 26 DM.