Virtuelle Rucksacktouristen im digital fliegenden Klassenzimmer

Mitmach-TV auf der documenta: Liue auf van Goghs „Piazza Virtuale“  ■ Von Manfred Riepe

Nach Meinung von Benjamis Heidersberger und Karel Dudesek, den Köpfen der über zwanzig Mitglieder zählenden Formation „Van Gogh TV“, ist die These vom Ende des Fernsehzeitalters falsch. Mir ist zwar nicht geläufig, wer angesichts der wachsenden Zahl von Kabel- und Knebelkanälen vom Ende des Fernsehzeitalters spricht. Doch abgesehen von dieser prätentiösen These verwirklicht „Van Gogh TV“ interessante, witzige und diskussionswürdige Projekte, die sich mit dem Problem der Demokratisierung des Mediums befassen.

Im „Hotel Pompino“, dem ersten realexistierenden Mitmachfernsehen, 1990 im Rahmen der „Ars Electronica“ in Linz realisiert, konnten Zuschauer logieren, indem sie mit Kommunikationsprothesen wie Telefon und Modem miteinander kommunizierten.

Der Verlauf dieser Kommunikation wurde live ausgestrahlt. Wiederum live über den „Kulturkanal“ 3sat übertragen wird Piazza Virtuale, das aktuelle „Van Gogh TV“- Projekt im Rahmen der IX. Kasseler documenta.

Noch bis zum 20.September wird täglich von 11Uhr bis 12.30Uhr (am Wochenende über nacht) der Bildschirm je nach Themenblock in verschiedene Abschnitte unterteilt. Im unteren Bereich wird beispielsweise die Schrift eingeblendet, die mehrere via Computer plus Modem eingelogte Anrufer (ähnlich einem elektronischen Fernschreiber) auf den Bildschirm projizieren können. Wer über keinen Computer verfügt, kann sich mit dem normalen Telefon in eine Konferenzschaltung begeben, wo die meiste Zeit Unsinn geredet wird.

Zusätzlich werden in der linken oberen Ecke eingehende Faxe als „Plakatwand“ eingeblendet, auf der man etwas annoncieren kann. Ein Bildtelefon-Zugang über ISDN (Integrated Services Digital Network, auch unter dem Namen Schwarz Schilling bekannt) ist ebenfalls möglich. Mit einem „Tone“-Telefon bzw. Einem Anrufbeantworter- Fernabfrager kann man jeweils einen Tongenerator (Klassik oder Pop, Strings oder Percussion etc.) aktivieren, so daß mehrere Anrufer sich zu einem anonymen virtuellen Orchester formieren. Außerdem kann man via Modem in der aktuellen taz wie in einer Datenbank wühlen (trotz gegenteiliger Behauptungen ist die taz weiterhin auf Papier am Kiosk erhältlich).

In der „Hyde Park Speakers Corner“ schließlich kann jeder für eine Weile ungestört Obszönitäten über ganz Europa verbreiten oder gleich über Kunst und die Tatsache, daß er jetzt für fünf Minuten ein Star ist, philosophieren.

Von einem, der durchkam

Jeder der Zugänge ist über eine spezielle Telefonnummer erreichbar. Das periodisch durch den Äther fliegende Klassenzimmer erklärt Neueinsteigern die Palette der Möglichkeiten. Via Satellit übertragen, ist so potentiell ganz Europa in der Lage, einem virtuellen Chaos beizuwohnen, das beim zufällig durchs Programm zappenden Zuschauer den Eindruck vermittelt, als würde eine Gruppe ausgelassener Freaks in der Musikabteilung eines Kaufhauses eine Fete feiern.

Aus der Perspektive des reinen Konsumenten sieht das Ganze eher abschreckend aus. Das ändert sich jedoch, sobald man anfängt mitzumachen. Nachdem ich mich in den „Marktplatz“ zugeschaltet hatte, war zunächst nur vielfältiges, unentschlossenes „Hallo“ zu hören, hin und wieder schüchternes Pfeifen. „Ich mach euch alle fertig“, lautete der erste verständliche Satz, der über den Äther ging. Als ich mich via Modem in den aggressiven Tonfall einklinke, melde ich mich mit „Killer“. „Killer, wie nett“, tippt einer aus München.

„Hier ist die Astrid, braucht jemand einen Plattenspieler?“, tönt es indessen forsch. Derweil unten: „Hier Port3, aus Frankfurt.“ — „Was, noch einer?“ Ein Dritter: „Kann man bei 300 Baud downloaden?“ Statt einer Antwort wird weiter im Voice Telefon geredet: „Seht ihr denn alle gut aus?“ Inzwischen wieder unten: „Port1 stellt subversive Fragen“ (z.B. „Was ist Kunst?“). Noch einer will verkaufen: „Hab einen Amiga 500.“ Unwillkürliche Antwort (Absender unidentifiziert): „Schmeiß weg, das Ding.“ Dann wieder Astrid mit ihrem Plattenspieler... „Hallo Loithää, hier ist Frank aus Hamburg“, sagt Frank aus Hamburg. Dann Chaos. „Können nich' mal 'n paar Jungs auflegen, damit mehr Mädels reinkommen“, sagt einer lüstern. „Geh doch selber“, lautet die prompte Antwort. Dann wieder Astrid unbeirrbar mit dem Plattenspieler.

Ein anderer energisch: „Hört denn hier keiner auf den anderen?“ „Port3, hast du Müll?“ Port3 (das bin ich): „Nein, der kommt von Port2!“ „Hat jemand mein Handtuch gesehen?“ (Port2 schreibt blind) Port1: „Ich gehe!“ Port2: „Junge, komm bald wieder.“ Plötzlich: „Ich hab' selber mal in Köln gewohnt.“ Astrid (unermüdlich): „Hallo Frank, was willst Du?“ Frank: „Ich will nichts.“ „Warum bist du denn in der Leitung?“ „Ich will mit den Mädels plaudern.“ Astrid: „Ich will aber einen Plattenspieler verkaufen.“ Ein anderes Mädchen: „In Sindelfingen regnet es.“

Zwischendurch versucht jemand, die Sache militärisch zu ordnen: „Alle der Reihe nach!“ Doch: „Hallo, mit wem spreche ich?“ — „Mit allen, würde ich sagen.“ „Habt ihr alle ein Telefon?“ — „Nein, wir telefonieren mit den Händen.“ Inzwischen wird Lüneburg rabiat: „Fresse halten!! Man versteht ja nichts!“ Stream of Consciousness, elektrisch. Virtuelle Aggression.

Der Einheitenzähler begann zu rotieren

Anregend ist das Ganze zweifellos. Vor allem jedoch ist das Telespiel ein gutes Geschäft für die Telekom, die einen Teil des rund 2,5 Millionen Mark teuren Projekts gesponsert hat. Bei Neugierigen und Kunstidealisten rotiert der Einheitenzähler wie die Nummernscheibe des Geldspielautomaten in der Kneipe um die Ecke. Auch das Argument, den Zuschauer durch die Schulung an neuen Medien aus seiner Passivität herauszuholen (Brechtsche Radiotheorie: Jeder Empfänger ist zugleich potentieller Sender), ist zweischneidig. Denn wer den Umgang mit interaktiven Medien gelernt hat, wird auf diesem Weg überhaupt erst ansprechbar. Ein neuer Kanal entsteht und eröffnet damit eine neue Dimension der Verführ- und Verfügbarkeit des Zuschauers.

Kunst wird nämlich beim interaktiven Fernsehen vermutlich der letzte Sektor sein, auf dem interagiert wird. Die Medienkünstler leisten (un-)freiwillige Entwicklungshilfe für eine Medienkultur, in der die (Inter-)Aktivität eine noch sublimere Form der Passivität und der Ohnmacht darstellt als bislang das bloße Glotzen. Problemlos denkbar sind z.B. immer raffiniertere, interaktive Telemarketing-Konzepte oder interaktive Game-Shows. Allzu utopisch ist die Vorstellung, mit einer per Modem datenfernübertragenen Paintbox einen schwarzen Balken mit “Halts Maul!“ bei Gottschalk live in die Sendung einzublenden.