Historismus, Kritik und Synthese

■ Jürgen Kocka zum Tod des Historikers Thomas Nipperdey

Die Festschrift, die zu Thomas Nipperdeys 65. Geburtstag im Oktober dieses Jahres vorbereitet worden ist, wird als Gedenkschrift erscheinen müssen. Der hochangesehene Preis des Historischen Kollegs, der Nipperdey im März zuerkannt wurde, wird posthum verliehen werden. Doch das Lebenswerk, das durch den Preis geehrt werden soll, konnte Nipperdey zu einem gewissen Abschluß bringen. Noch diesen Sommer wird der dritte und letzte Band seiner Deutschen Geschichte 1800 bis 1918 erscheinen, den er trotz schwerer Krankheit vollendete, bevor er am 14. Juni starb. Dieses große Werk zieht die Summe aus einem produktiven Wissenschaftlerleben, das Nipperdey zu einem der bedeutendsten Historiker seiner Zeit und einer weithin sichtbaren Gestalt des geistigen Lebens der Bundesrepublik gemacht hat.

Als skeptischen „Semihistoristen“ und „Antikritiker“ der „kritisch-emanzipatorischen“ Geschichtswissenschaft hat sich Nipperdey einmal bezeichnet. Die Etikette des Neo-Historisten klebten ihm seine Kritiker an. Er trug sie nicht ungern.

Aber sein Werk geht in dieser Charakterisieriung nicht auf. Denn schon die 1961 bei Theodor Schieder in Köln geschriebene Habilitation über die Organisation der deutschen Parteien vor 1918 war ein methodisch modernes, systematisch argumentierendes Werk, das die historische Geschichtswissenschaft früherer Zeiten nie hervorgebracht hätte. Später legte Nipperdey Abhandlungen vor, die als avantgardistische Pionierarbeiten gelten können. So plädierte er früh (1967) für die Erweiterung der Geschichtswissenschaft in Richtung historische Anthropologie. Es folgte der Aufsatz über Nationaldenkmäler im 19. Jahrhundert. Damit intonierte er eine kulturgeschichtliche Forschungsrichtung, die mittlerweile Hochkonjunktur hat. Der Aufsatz zur Geschichte des Vereins als einer sozialen Struktur des 18. und 19. Jahrhunderts erwies sich ebenfalls als Startschuß einer ganzen Forschungsrichtung. Vor allem die knappe Abhandlung über Probleme der Modernisierung in Deutschland bewies 1979, daß Nipperdey die systematischen Begriffe der benachbarten Sozialwissenschaften in durchaus nach-historischer Weise zu benutzen verstand.

Nipperdey liebte die thesenhafte, manchmal schroffe Formulierung, das exponierte, polemisch gewendete und gleich wieder relativierte Argument. In glatter Erzählung ging seine Darstellung nur selten auf, so sehr er sich theoretisch für narrative Geschichtsschreibung einsetzte. Der englische Historiker Richard Evans traf nicht ganz daneben, als er kürzlich Nipperdey und Hans-Ulrich Wehler, die in der Regel als Antipoden gelten, im selben Boot sitzen sah und beiden vorwarf, sie vernachlässigten den O-Ton der jeweils untersuchten Zeit und überwältigten die Zeitgenossen der Vergangenheit mit ihrer gegenwartsbezogenen analysierenden Sprache. Der in Philosophie promovierte Nipperdey griff häufig und wirkungsvoll in die geschichtswissenschaftliche Theoriediskussion der letzten drei Jahrzehnte ein, und er lobte die komparative Methode, die historistischen Historikern immer fremd geblieben ist.

Trotzdem ist richtig, daß Nipperdey an Traditionen des Historismus bewußt angeknüft hat, und zwar zunehmend in Reaktion auf kritisch-revisionistische Strömungen, die er ablehnte, vor allem seit seinen Berliner Jahren 1967 bis 1972. Damals erreichte der studentische Protest seinen Höhepunkt. Die harten, oft intoleranten und maßlosen, bisweilen auch tätlichen Angriffe der Studenten müssen zu traumatischen Erfahrungen geführt und manchen Betroffenen für die Zukunft geprägt haben. Nipperdey, protestantischer Bildungsbürger und damals Mitglied der SPD, hielt öffentlich dagegen, mit beachtlichem Mut. Er trat dem konservativen „Bund Freiheit der Wissenschaft“ bei und verließ schließlich unter Protest die Freie Universität, in der er die Bedingungen für freie Forschung und Lehre nicht mehr gegeben sah. Seitdem lehrte er in München.

In der Folge engagierte sich Nipperdey des öfteren vehement gegen seines Erachtens zu weit getriebene linke Reformpolitik, so 1973 im Kampf gegen die Hessischen Rahmenrichtlinien für Gesellschaftslehre. Im Historikerstreit von 1986/87 wandte er sich gegen die Kritiker Noltes. Und immer wieder formulierte er seine prinzipiellen Einwände gegen eine emanzipatorisch engagierte, traditionskritisch orientierte, nach-historische Geschichtswissenschaft, wie sie sich seit den späten sechziger Jahren — zum Teil als „Historische Sozialwissenschaft“ — entwickelt hat. Nipperdey bestand auf dem Eigenrecht jeder historischen Epoche. Er warnte davor, die deutsche Geschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts allzu ausschließlich als Vorgeschichte der Katastrophe von 1933 bis 1945 zu betrachten. Er wandte sich gegen die „immer neue Entlarvung der Groß- und Urgroßväter“ durch heutige Historiker, die „Ankläger, Richter und Gesetzgeber in einer Person“ zu sein beanspruchten. Er plädierte für historische Objektivität und gegen kurzschlüssige Relevanz. „Diese Essays“, so führte er eine seiner Aufsatzsammlungen ein, „wollen die Neugier ins unverfügbar Andere und Fremde verlocken und doch aufs Bedeutungsvolle konzentrieren. Sie wollen unsere Vergangenheit mit der skeptischen Liebe des Historikers wiederholen, sie mit Gerechtigkeit und ohne eiferndes Besserwissen vergegenwärtigen, und über unser so ambivalentes Erbe aufklären, uns zu unserer Herkunft in Beziehung setzen.“

Das Programm blieb kontrovers und nicht ohne innere Widersprüche. Aber seiner Realisierung kam Nipperdey bemerkenswert nahe. In seiner Deutschen Geschichte verwob er Politik- und Kultur-, Sozial- und Geistesgeschichte zu einer imponierenden Synthese. Weit ausladend und ohne explizite Theorien, sehr lesbar und souverän fließt die Darstellung dahin: verständnisvolle Rekonstruktion aus deutlicher Distanz, mit Sympathie und Sinn für Ambivalenzen.

Thomas Nipperdey war historistisch und kämpferisch, skeptisch und entschieden, nachdenklich und polemisch zugleich. Vieles, was er schrieb, lebte aus dem verteidigenden Widerspruch gegen Tendenzen, die er — in der Wissenschaft, in der Politik, im geistigen Leben — als bedrohlich oder doch unangemessen wahrnahm. Dem dominierenden Zeitgeist widersprechen sah er sich auch dann, wenn ihn dieser längst sicher umfing und trug, was je später, desto häufiger der Fall war. Daß ihn diese Grundhaltung nur selten zu bloßer Abwehr und Erstarrung geriet, sondern er sie oft produktiv zu wenden verstand, darin bestand eine der größten Leistungen dieses Wissenschaftlers und Intellektuellen. Seine Stimme wird fehlen.