Genau das passierte in Paris

■ Kay Boyle im Gespräch mit Leo Litwak über das Paris in den Zwanziger Jahren

Die Autorin Kay Boyle, heute neunzig Jahre alt, hatte von 1923 bis 1941 die französische Staatsbürgerschaft. Wie so viele KünstlerInnen und Intellektuelle aus den USA lebte sie in den zwanziger und dreißiger Jahren in Europa (ihre Reportagen unter anderem über Deutschland nach dem Nationalsozialismus wurden im letzten Jahr in der taz besprochen) — aber im Unterschied zu den meisten ProtagonistInnen dieser Zeit wehrt sie den „Mythos Paris“ heftig ab. Das folgende Gespräch wurde Mitte der achtziger Jahre geführt. Von Kay Boyles deutschen Werkausgabe erscheint im Verlag Neue Kritik in Kürze der zweite Band.

Leo Litwak: Was brachte Sie nach Paris?

Kay Boyle: 1922 heiratete ich in New York einen Franzosen. Zu jener Zeit war es so, daß eine Frau mit ihrer Heirat die Nationalität ihres Mannes annahm. Also wurde ich Französin; ich besaß einen französischen Paß. Ich war also keine der exiles. Ich finde es wirklich ärgerlich, wenn man mich zu den exiles zählt. Ich arbeitete dort, ich hatte dort einen Beruf. Und ich traf diese Menschen, die aus Amerika herübergekommen waren, und zwar nicht deshalb, weil sie gegen irgend etwas im einzelnen protestieren wollten, sondern weil der Wechselkurs so günstig war. Genauso unerfreulich war das. Ich bin der Meinung, daß diese ganze Verherrlichung dieser wundervollen Camelot-Zeit absurd ist. Ich meine, es gab Selbstmorde, es gab Hunger, es gab alle möglichen Spielarten von Schmerz.

Und trotzdem, jene Zeit hatte etwas Besonderes an sich, meinen Sie nicht auch?

Ja, tatsächlich. Es war eine Revolte gegen jede Form literarischer Anmaßung, gegen fade abgestandene Rhetorik, gegen alle ausgelaugten literarischen und akademischen Konventionen. Unsere Losungen hießen: „Nieder mit Henry James, nieder mit Edith Wharton, nieder mit der Sterilität von The Waste Land.“

Wir hatten Walt Whitman, an den wir uns halten konnten. Aber mit den hochgeschätztesten amerikanischen Autoren des vergangenen Jahrhunderts, mit denen kannten wir absolut kein Pardon; wir waren vollkommen gegen sie. Was wir wollten, war ein ganz und gar experimenteller, wild entschlossen respektloser Schreibstil in Amerika. Und wir hatten vor, ihn zu kreieren. Wir waren damals in Frankreich so etwas wie die Kinder des 13. Jahrhunderts, nach denen der Kreuzzug benannt worden ist, die sich vor so langer, langer Zeit auf französischem Boden zusammengefunden hatten, geleitet von der hehren Hoffnung, sie könnten da erfolgreich sein, wo ihre Eltern versagt hatten. Und wir hatten das Gefühl, daß unsere Eltern uns gegenüber versagt hatten.

Also, mag sein, daß dieses Beispiel etwas erzwungen ist, aber es ist eine Parallele. Ein Teil der Kinderkreuzritter wurde von den Kapitänen der Schiffe, mit denen sie lossegelten, in die Sklaverei verkauft, und andere starben dann an Hunger oder Krankheiten. Und genau das passierte in Paris in den Zwanzigern. Unter den expatriates herrschten Hunger und Krankheit. Und einige starben an ihrem Hunger nach Anerkennung. Und andere verkauften schließlich ihre Talente in die Sklaverei der Verlagswelt.

Und genau das ist der Punkt, der mich so fuchsteufelswild macht. Das Leben der wenigen, die überlebt haben, ist heute kaum mehr erkennbar angesichts der Verzerrung durch Zeit und Erinnerungsvermögen. Sie stellen nicht mehr dar als die zerbrechliche Substanz eines Mythos. Ich bin sehr verärgert über diesen Mythos. Ich finde, es sollte die Wahrheit gesagt werden.

Um das, gegen das wir uns da drüben wandten, ein wenig genauer zu fassen: Sherwood Anderson hat einmal über sein eigenes Werk gesagt, daß es eine Revolte gegen die kalte, harte, steinige Kultur von Neuengland sei, in der Vornehmheit und Ansehen zur Leidenschaft unserer Schriftsteller wurde. Und genau gegen das wandten wir uns.

Wir hatten da drüben bestimmte Idole. Wir feierten selbstverständlich das Werk von James Joyce und die Kurzgeschichten von Sherwood Anderson. Wir begrüßten begeistert die echte Schlichtheit des frühen Hemingway. Und wir schätzten Poesie und Prosa und den still leuchtenden aufgeklärten Geist von William Carlos Williams. Er war einer unserer geistigen Führer, einer unserer Heiligen, auch wenn er immer nur vorübergehend da war.

Und natürlich war da Gertrude Stein. Ohne Gertrude Stein hätte es vielleicht einen dermaßen artikulierten Sherwood Anderson nicht gegeben und bestimmt, ganz bestimmt, hätte es einen weniger disziplinierten Hemingway gegeben. Sie ließ sich nur schwer feiern, nebenbei bemerkt — so als habe sie das Monopol der Verehrung für sich gepachtet. Und ich habe sie oft sagen gehört — und sie hat das auch geschrieben —, daß niemand seit Shakespeare etwas dazu getan habe, die englische Sprache zu revolutionieren außer Gertrude Stein. Und es war ihr außerdem gegeben zu verkünden, daß die Juden nur drei wirkliche Genies hervorgebracht hätten — Christus, Spinoza und sie selber.

Wann haben Sie Joyce zum ersten Mal getroffen?

Das muß 1927 gewesen sein, 'transition‘ druckte gerade Work in Progress von Joyce. Und Eugene und Maria Jolas, die Herausgeber von 'transition‘, luden mich zu einer Party ein. Ich hatte sie gerade kennengelernt, die beiden Jolas. Und Joyce war auf dieser Party, und wie üblich war die Party gespalten in zwei Lager — Sylvia Beach und James Joyce und Nora Joyce auf der einen Seite des Raums, und Gertrude Stein und ihre Kohorten und Bewunderer auf der anderen Seite des Raums. Sie wechselten kein Wort miteinander. Und was ich an der Sache so erstaunlich finde — ihre unterschiedliche Meinung, die sie zu Todfeinden machte, lag darin, daß sie verschiedener Ansicht darüber waren, wie denn die revolution of the word auszusehen habe. In einer Auflage von Being Genuises stand später, sie seien verschiedener Meinung gewesen, wie die revolution of the world auszusehen habe — sie hatten ein L eingefügt. Und ich habe es in allen Bänden, die ich in die Hände bekommen konnte, ausgestrichen, denn ich kann mir kaum vorstellen, daß Joyce oder Gertrude Stein an einer Revolution der „Welt“ Interesse hatten.

Joyce und Nora waren da, und ich wurde ihnen vorgestellt. Nora gelang es, daß man sich gleich wohlfühlte, indem sie sagte: „Ist sie nicht genau wie alle schönen irischen Mädchen, die in den Straßen von Dublin herumlaufen?“ Und Joyce sagte: „Hm, ja, stimmt, ja, genauso ist sie.“

Er hatte ein großes Interesse, wie Sie zweifellos wissen, an Weißweinsorten. Und er erzählte mir von den Schweizer Weinen, die ihn interessierten. Die Schriftstellerei wurde mit keinem Wort erwähnt.

Trafen sich in Paris die Schriftsteller und sprachen über ihre Arbeit?

Das ist die nächste falsche Vorstellung von den exiles, den expatriates. Die meisten von ihnen lebten eigentlich außerhalb von Paris, wie wir auch. Und gelegentlich kamen wir nach Paris. Schriftsteller sind im Grunde genommen Menschen, die ein sehr zurückgezogenes Leben führen. Man braucht einfach Ruhe und Frieden. Ich denke, nur die ganz jungen und noch sehr unerfahrenen Schriftsteller, die aus Amerika herüberkamen, machten sich auf die Suche nach anderen Menschen, um mit ihnen über ihre Arbeit zu sprechen. Diejenigen, die schon ein wenig länger da waren, hätten sich niemals an einem Tisch niedergelassen, um über ihre Bücher zu reden. Und wenn sie das getan hätten, wären wir alle aufgestanden und gegangen. Niemand war daran interessiert. Und der Gedanken, jemand würde laut vorlesen — einfach unvorstellbar. Die, die tatsächlich rumsaßen und miteinander diskutierten, das waren die Maler und die Komponisten. Picasso saß abends häufig irgendwo und unterhielt sich stundenlang mit Freunden. Und Edgar Varèse, dieser unglaublich revolutionäre Komponist, unterhielt sich ebenfalls gerne mit seinen Musikfreunden. Aber in gewisser Weise waren sie viel normaler als die Schriftsteller.

Die Komponisten und die Maler?

Ja, viel, viel ungezwungener in allem.

Aber offensichtlich hat es doch ein „Café-Leben“ gegeben, auch wenn es kein literarisches war.

Oh ja, ein „Café-Leben“ hat es gegeben. Es gab bestimmte Bars, wo man die Leute kannte — wo man mit den Barkeepern befreundet war und sich Geld von ihnen lieh. Der Barkeeper in der „Coupole“ war ein wunderbarer Mann. Er kaufte den von Armut heimgesuchten Amerikanern Bilder ab, damit sie ein wenig Geld zum Leben hatten. Er war ein sehr bedeutender Mann, und es ist nicht genug über ihn geschrieben worden. Sollte ich noch einige Jahre vor mir haben, ich würde ein zweites Buch über das Paris der Zwanziger schreiben und die wirklich großen Leute da reinbringen, die uns damals beigestanden haben. Nicht nur die Herausgeber von kleinen Verlagspressen und Zeitschriften, sondern die besonderen Leute wie die Barkeeper, solche wie die Kellner in einigen Kneipen, die uns beigestanden haben.

Und dann war da noch Bricktop, der kürzlich verstorben ist, der in Montmartre ein Café besaß und der sehr, sehr viel für Schriftsteller übrig hatte und ihnen finanziell half. Es gab einzelne Menschen, aber es fanden keine Massenzusammenkünfte statt. Es hat niemals ein Café existiert, in das man hineinkam und sagte: „Oh, da sitzt ja der Soundso mit der Soundso.“ So etwas gab es einfach nicht. Das ist erfunden und erdacht. Ich glaube, Malcolm Cowley — der sich selber als exile bezeichnete, der er aber gar nicht war —, ich glaube, er hat eine Menge dieser falschen Vorstellungen über das Paris der Zwanziger auf dem Gewissen. Und deshalb meine ich auch, daß McAlmons Darstellung die wahre ist und die bleibende sein sollte. Aber damals wurde sie nicht anerkannt. Er war ein schwieriger Mann. Er haßte die Vorstellung — die, wie ich glaube, wohl nur im amerikanischen Leben vorkommt —, daß das Publikum über das Privatleben des Künstlers, des Schriftstellers, des Malers, Bescheid zu wissen habe. In Europa versucht die Presse nicht, sich in jedermann privates Leben zu drängen und es zu einer öffentlichen Angelegenheit zu machen.

Sie brauchen nicht über all die scheußlichen Einzelheiten — oder auch die schönen Dinge — im Leben eines Schriftstellers Bescheid zu wissen. Dieser schreckliche gierige Hunger, diese Neugier, etwas über das Privatleben zu erfahren — so als ob die Leute, wenn sie nur genug über das Privatleben herausbekämen, selber zu Schriftstellern oder Malern werden könnten. So funktioniert das nicht.

Und ich glaube, eine der Stärken der expatriate-Bewegung — ich nenne sie nur äußerst ungern so, denn es war im Grunde keine Bewegung — lag darin, daß es sich um einzelne Menschen handelte, die jeder für sich lebten und ihre Arbeit nicht öffentlich breit traten — im Grunde genommen andere damit nicht langweilen wollten.

Und trotzdem war es doch so, daß sich auf relativ kleinem Raum innerhalb relativ kurzer Zeit außergewöhnliche Menschen zusammenfanden.

Ja, aber sie waren nicht alle in Paris. Sie hielten sich hin und wieder in Paris auf. McAlmon war nur gelegentlich da. Hemingway war gelegentlich da. Soweit ich weiß, waren die einzigen, die praktisch die ganze Zeit über da waren, Joyce und Gertrude Stein. Und Joyce führte ein ganz und gar zurückgezogenes Leben. Und Gertrude Stein hatte den exklusiven Zirkel ihrer Bewunderer. Und eigentlich war Alice Toklas diejenige, die darüber entschied, wer ein zweites Mal kommen konnte. Sie war für die Gästeliste zuständig. Ich habe gehört, ich wäre nur ein Mal dorthin eingeladen worden, weil sie der Meinung war, ich sie wie Hemingway viel zu bürgerlich. Aber komisch ist es schon, in ihrer Autobiography schreibt Alice B. Toklas, ich hätte sie häufiger besucht, was nicht stimmt. Ein einziges Mal hat man mich dorthin mitgenommen, und ich bin nie wieder ein zweites Mal eingeladen worden. Ich fand es sehr interssant dort und habe mich mit Gertrude Stein über viele Dinge unterhalten, etwa über Malerei. Der einzig wirklich bemerkenswerte Mensch in der Familie war Leo, ein Kunstkenner und ein wahnsinnig intelligenter und feinfühliger Mann. Und er kam immer mit Gemälden an, um sie Gertrude Stein zu zeigen. Und sie hatte absolut kein Interesse. Und er sagte: „Na gut, ich werde diesen Picasso eine Weile hängen lassen, oder diesen Manet, und du wirst dich an sie gewöhnen.“ Ja, und als sie den Geldwert dieser Bilder erkannte, fing sie an, sie zu sammeln. Aber am Herzen lagen sie ihr eigentlich nicht.

War es Ihr Ehemann Laurence Vail, durch den Sie zu Ihrem Verständnis für die Malerei gelangt sind?

Oh, nein, nein. Meine Mutter war eine große Kennerin all der Modernen. Mit zehn hat sie mich 1913 zu der Ausstellung mitgenommen, wo zum ersten Mal Duchamps Akt, eine Treppe heruntersteigend gezeigt wurde. Sie mußten damals Polizeiwachen drumherum aufstellen, weil die Leute es mit Gegenständen bombardierten, so sehr waren sie außer sich. Und dort sah ich auch die ersten Brancusis. Meine Mutter hat, was diese Dinge betrifft, eine wunderbare Intuition gehabt. Sie wußte, daß es wichtig war, daß ich die Bilder sah. Aber sie wußte nicht — und ich damals natürlich genauso wenig —, daß Marcel Duchamp eines Tages der Patenonkel meines Sohnes sein würde und daß Brancusi zu meinen engsten Freunden gehören würde.

Aber als ich nach Frankreich ging, hatte meine Mutter mir das Gefühl mitgegeben, daß ich, weil ich schrieb und seit dem sechsten Jahr immer schon geschrieben hatte, ebenso gut wie Gertrude Stein oder Joyce oder sonst jemand wäre. Und diese Leute haben keinen überwältigenden Eindruck auf mich gemacht, weil ich glaubte, alle ernstzunehmenden Schriftsteller — Menschen, die ihr Leben mit Schreiben verbringen und denen Schreiben ein Anliegen ist — seien gleich. Ich empfand das sehr stark.

Als Sie Samuel Beckett zum ersten Mal trafen, war er da schon ein bekannter Schriftsteller?

Nein, ich lernte ihn Ende 1928 kennen, und er hatte gerade einen Wettbewerb gewonnen, den Nancy Cunards 'Hours Press‘ gesponsort hatte. (Das war wirklich eine revolutionäre Frau, in jeder Hinscht. Sie war eine wunderbare Freundin.) Sie hatte gerade einen Preis für das beste Gedicht ausgesetzt. Und am allerletzten Tag, genau gesagt, am allerletzten Abend, an dem der Wettbewerb lief, rannte Beckett los und steckte in allerletzter Sekunde dieses lange Gedicht in ihren Briefkasten. Sie hatte noch nie von ihm gehört. Und dieses Gedicht war das einzige, was er veröffentlicht hatte, als ich ihn kennenlernte. Und bis heute erinnern wir uns, Beckett und ich, an ein Gespräch, das wir an jenem Abend geführt haben, weil es nämlich sowohl in seinem wie auch in meinem Leben ein sehr wichtiges war. Von jenem Abend habe ich nichts anderes in Erinnerung behalten, als daß ich mit ihm auf einem Sofa saß und mich mit ihm unterhalten habe, von neun Uhr abends bis ungefähr zwei Uhr morgens. Und zum größten Teil über Wahnsinn. Da ist nur eine Sache, die ich von diesem Abend vergessen habe. Und das wirft er mir vor. Er sagte, er habe am Abend zuvor ein Stück von Machiavelli gesehen, und er wollte mir erzählen, worum es darin ging. Aber ich wollte viel lieber über Lucia Joyce [die Tochter von James Joyce] reden, die zu der Zeit gerade zusammengebrochen und in eine Irrenanstalt gebracht worden war, und deshalb ließ ich ihn nicht. Daran kann ich mich überhaupt nicht mehr erinnern. Er wirft mir das immer noch, sehr sanft, vor.

Was Beckett und mich unter anderem sehr stark verbindet, denn wir sind bis heute enge Freunde, ist, daß wir beide politisch bewußte Menschen sind. Vielleicht täusche ich mich, aber ich habe das Gefühl, daß sich die Amerikaner bis vor kurzem nicht gerade hervorgetan haben, was politische Fragestellungen und Äußerungen angeht. Das ist eine vollkommen europäische Tradition, denke ich. Zola war ständig irgendwo auf Streikposten. Anatole France war sehr, sehr politisch. Und ich hatte immer ein ausgeprägtes politisches Bewußtsein, das ich von meiner Mutter übernommen habe. Ja, und die wenigsten machen sich klar, daß Beckett in der französischen Résistance sehr aktiv war. Aber er gibt ja nie Interviews; er würde nie über diese Dinge reden. Wenn man ihn aber dennoch danach fragt, sagt er: „Tja, man konnte doch nicht einfach mit verschränkten Armen dabeistehen und zusehen.“ Was wunderbar ist. Und Camus zum Beispiel. Mein Gott, sein Engagement war unglaublich. Er war der festen Überzeugung, daß der Schriftsteller verpflichtet ist, für diejenigen zu sprechen, die selber nicht sprechen können, für die zu sprechen, die sich nicht artikulieren können, den Bergarbeiter im Bergwerk, so Camus, den Gefangenen im Konzentrationslager und den Gefangenen im Gefängnis. Der Schriftsteller ist verpflichtet, für diese Menschen zu sprechen, weil sie nicht für sich selber sprechen können.

Einer der Revolutionäre, die Sie kannten, eher ein Revolutionär der Welt als des Wortes, war der Anarchist Alexander Berkman, der nicht Schriftsteller war.

Oh, er war ein sehr guter Schriftsteller. Seine Gefängniserinnerungen sind phantastisch. Sie sind kürzlich wieder aufgelegt worden, und sie sind wirklich außerordentlich. Er verbrachte lange Zeit im Gefängnis und kam als sanfter verständnisvoller weitherziger Mann heraus. Er hat größten Einfluß auf mein Leben gehabt.

Wann haben Sie ihn kennengelernt?

Das war 1930. Seine Sanftmut, seine Nachsichtigkeit, sein Mitgefühl anderen gegenüber, all das hat mich wahnsinnig beeindruckt. Hier war ein Mann: ein Mann ohne Paß, ohne Papiere. Und er lebte in Südfrankreich, wo wir auch lebten. Einmal im Monat tauchte die Polizei in seiner Wohnung auf und teilte ihm mit, daß er das Land zu verlassen habe. Dann stieg er tapfer in einen Zug nach Belgien oder Holland oder sonstwohin, und wenn er da ausstieg, dann ließen sie ihn nicht rein, weil er keine Papiere hatte. Also stieg er in den nächsten Zug und kam nach Nizza zurück. Er hatte nie das Bedürfnis, sich zu beklagen. Er wollte nicht darüber sprechen. Er wollte über die Dinge, die ihm widerfuhren, lieber positiv als negativ sprechen. Und er erklärte auch den Anarchismus nicht schulmeisterlich oder irgendwie in der Richtung, sondern auf eine so menschliche Art. Die Anarchie, sagte er immer, fordert weit mehr vom einzelnen als der Kommunismus. Der Kommunismus fordert im Grunde genommen nicht viel vom einzelnen.

War Emma Goldman zu jener Zeit in Frankreich?

Ja. Und es war sehr schön, sie und Berkman zusammen zu sehen. Sie waren damals nicht mehr jung, aber sie waren schon seit ewigen Zeiten miteinander befreundet. Wenn wir sonntags abends zusammen beim Essen saßen, tanzten sie immer zusammen, die beiden. Sie tanzten Walzer. Es war sehr rührend.

War es vielleicht so, daß einige Schriftsteller während der Zwanziger in Frankreich Zuflucht gesucht haben, um dem zu entkommen, was man eventuell das Schicksal eines amerikanischen Schriftstellers nennen könnte?

Es ist schwierg, darauf eine generelle Antwort zu geben, aber ich denke, daß es gut so gewesen sein kann. Nelson Algren hielt einmal eine Vorlesung, die, wie ich finde, eine große Wahrheit enthält. Darin sagte er, daß man, wenn man zum Beispiel an Melville, Poe, Mark Twain, Vachel Lindsey, Jack London und Thomas Wolfe denkt, tatsächlich so allmählich das Gefühl bekommt, daß so gut wie keine Möglichkeit besteht, in Amerika ein guter Schriftsteller zu werden, ohne nicht gleichzeitig auch ein Verlierer zu sein. Algren glaubte, daß das an den unbarmherzigen Anforderungen der amerikanischen Schriftstellerszene lag, dem Zwang, unter dem die Verleger standen, einen Erfolg nach dem anderen herauszubringen, der schließlich diese wunderbaren Schriftsteller zugrunde richtete.

Sehen Sie sich das Leben von Scott Fitzgerald an. Sehen Sie sich an, was aus Hemingway wurde. Aber ich bezweifle, ob Algren von den Studenten für kreatives Schreiben oder ihren Lehrern an den Colleges und Universitäten unseres Landes großen Beifall erntete, wenn er ihnen mit vielen Worten davon erzählte, daß der ständige Kampf, mit intensivem Gefühl zu schreiben und gleichzeitig wie ein Millionär zu leben, Fitzgerald dermaßen zermürbte, daß es am Ende so weit gekommen war, daß er kein guter Schriftsteller mehr sein konnte. Und ich würde sagen, auch Hemingway wurde von diesem Kampf zermürbt. Fitzgerald schrieb, er könne nicht länger ein guter Schriftsteller und ein anständiger Mensch sein.

Mir gefällt, wie Algren das ausgedrückt hat. Am Ende — ich zitiere das jetzt nur so aus der Erinnerung — sagte er, Fitzgerald tauchte so tief in den uferlosen Gewässern unter, daß er voller Schmerz und Bestürzung ausrufen mußte: „Warum bin ich den Objekten meines Entsetzens und meines Mitleids so gleich geworden?“

Und dann sagte er den Eiferern — diesen endlosen Eiferern auf Schriftstellerkongressen, in den Seminaren für kreatives Schreiben, die meiner Meinung nach alle gesetzlich verboten gehören —, daß Fitzgerald aufgrund seines Versagens als Person schriftstellerisch erfolgreich war. Algren sprach in derselben Vorlesung auch über Mark Twain. Und er sagte, daß Mark Twain nach einer seiner öffentlichen Lesungen vom Podest stieg und sich einem langjährigen Freund zuwandte und sagte: „Mein Gott, wie sehr ich mich doch selber erniedrige. Ich mache mich zu einem richtigen Hanswurst. Ich kann es nicht mehr ertragen.“

Und genau diese bittere Erkenntnis über die Forderungen der Öffentlichkeit an das private Ich war es, die McAlmon so wütend machte. Vielleicht ist das schwer zu verstehen, aber der bloße Anblick eines amerikanischen Verlegers machte aus McAlmon einen höhnischen, verletzenden Menschen. Und dennoch, wie sehr man sein Verhalten auch bedauerte, so war er doch der Mann, von dem Ezra Pound schrieb, jetzt könnten andere das fortsetzen, was McAlmon begonnen hatte. Er hat eine neue Ader zu schreiben freigelegt.

Kay Boyle: Der rauchende Berg , Erzählungen und Reportagen, 1991; Eisbären und andere Erzählungen , 1992 (erscheint in Kürze), aus dem Amerikanischen von Hannah Harders, 240 Seiten, geb., 38 DM; beides im Verlag Neue Kritik. Wir danken dem Verlag für die Abdruckgenehmigung dieses Gesprächs, das erstmals 1984 in 'The New York Times Book Review‘ erschien.