DEBATTE
: Mixed Pickles ohne Zukunft?

■ Welche Chancen bringt die Wiedervereinigung den Deutschen eigentlich?

Es sei verrückt, so kürzlich der ehemalige CDU-„General“ Heiner Geißler, daß die Deutschen nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und nach der Wiedervereinigung eine Diskussion über die Risiken der Zukunft anstatt über ihre Chancen führten. Den Ball möchte man gerne aufnehmen. Welche Chancen Geißler allerdings meinte, blieb offen. In derselben Diskussion schlug dann die einstige SPD-Spitzenkraft Klaus von Dohnanyi den Deutschen vor, sie sollten wieder zu einem „vernünftigen Nationalgefühl“ finden, um die unvermeidlichen Opfer für die Rekonstruktion der Ex-DDR nicht murrend sondern freudig zu erbringen.

Warum Opfer bringen?

Das ist jedoch ein kontrafaktisches Argument. Den „Wessis“ unterhalb einer bestimmten Altersgrenze geht ein positives Nationalgefühl ziemlich ab, weshalb sie ja auch nicht einzusehen vermögen, daß die schlichte Tatsache, die Bundesrepublik nun mit 16 Millionen Deutschen mehr teilen zu dürfen, an sich schon ein Grund zur Freude sein sollte. Der nationale Diskurs liefert weder praktische Argumente noch eine wirkungsvolle Demagogie, die die von Geißler geforderte Chancendiskussion unterfüttern könnte. Um sich aber über mögliche Chancen der gegenwärtigen Situation der Bundesrepublik klar zu werden, muß man sich deren Rahmenbedingungen vergegenwärtigen: Die Bundesrepublik kann sich jährliche Transferleistungen von ca. 200 Mrd. DM in die Ex- DDR wirtschaftlich nicht leisten, jedenfalls nicht unter Beibehaltung des sozialpolitischen status quo. Infolgedessen ergeben sich — für jede nur denkbare Regierung — die folgenden Alternativen: a) der Staat erhöht seine Einnahmen; b) der Staat verringert die Ausgaben, insbesondere bei den „weichen“ Sozialleistungen; c) die Schulden des Staates werden durch Inflation abgebaut. Da keine Regierungskonstellation sichtbar ist, die die politische und moralische Kraft aufbrächte, den Weg a) und/ oder b) konsequent zu gehen, wird am Ende vermutlich ein mixed pickles aus allen dreien herauskommen.

Dennoch, so meine ich, lassen sich einige Ansatzpunkte einer „Chancendiskussion“ benennen. Die allerdings liegen nicht im materiellen Bereich. Die Angebote, die die Politik den Bürgern, vor allem im Westen, denn sie sind es ja, die die Leistungen für den Osten werden erbringen müssen, machen kann, liegen in jenem Bereich, den die Soziologie gerne postmaterialistische Werte nennt. Hinter den populistischen und oft demagogisch abgekürzten Reden über „Parteienverdrossenheit“ oder „Beamtenprivilegien“ verbirgt sich ein tiefes Unbehagen über die „demokratische Schieflage“ die das 35 Jahre lang höchst erfolgreiche Modell der sozialen „Marktwirtschaft“ unter den veränderten Voraussetzungen nach dem Ende der Vollbeschäftigungsgesellschaft produziert. Mit dem Beitritt der fünf neuen Länder ist die Bundesrepublik in der Tat eine Zweidrittelgesellschaft — und das wird sich auf absehbare Zeit auch nicht ändern. Es geht vielmehr darum, wie man damit umgehen will.

Wenn Arbeit knapp ist, dann kann man nicht einfach stillschweigend voraussetzen, daß gleiche Teilnahmechancen für alle am Marktgeschehen gegeben sind. Und noch weniger kann man voraussetzen, daß via Teilnahme an der Arbeit selbst die sozialpolitische Grundversorgung aller garantiert wird. Aber genau darauf basiert unser System der Sozialversorgung. Es geht weiterhin von der Zentralität der Arbeit aus und baut darauf seine Konzepte von Verteilungsgerechtigkeit und Leistungsanreizen auf. Konzepte dieser Art sind entweder zum Scheitern verurteilt, oder sie basteln — nolens volens — an einer Art neuer „Klassengesellschaft“.

Notwendig ist demgegenüber, von der „Dezentralität der Arbeit“ nicht nur in Randbereichen, sondern als gesellschaftliche Grundtatsache auszugehen. Das insbesondere aus den neuen Bundesländern kommende Interesse, die notwendigen Anpassungen des Grundgesetzes und die neuen Länderverfassungen inhaltlich durch Festschreibung von Ansprüchen aus den alten Ideen der produktivistischen Verteilungsgerechtigkeit aufzuladen, wird hingegen zu Lasten aller gehen. Es wird sich nur als Hebel erweisen, die Umwandlung der bisher erfolgreichsten Interessenverbände (wie Gewerkschaften, Beamtenbünde, Unternehmerorganisationen, aber auch sympathischer angesehene Organisationen wie Verbraucherverbände, die verschiedenen „Schutz“-Bünde etc.) in Klientelgruppen zur Ausbeutung der Gesellschaft zu beschleunigen.

Demokratische Angebote

Demgegenüber könnte die Politik den Bürgern ein Angebot machen, daß die unvermeidliche Reduktion der materiellen Leistungen durch ein Mehr an demokratischen Mitwirkungen zu kompensieren sucht. Selbsthilfe und Partizipation könnten die Kernbegriffe sein, um die sich ein solche Neuorganisation entfaltet, die in ihren Dimensionen einem „New Deal“ in der Sozial- und Gesellschaftspolitik gleichkäme. Im Versicherungssystem könnte man an ein Zweisäulenmodell wie in der Schweiz denken. Eine egalitäre Grundversorgung, die staatlich ist, und eine Zusatzversorgung, die in gesetzlich geregeltem Rahmen durch private Versicherungen und Entscheidungen erbracht wird. Das alles vor dem heute mehr denn je aktuellen Hintergrund einer arbeistunabhängigen sozialen Grundsicherung (Mindesteinkommen oder Staatsbürgerdividende). Die Kürzung der Stundentafeln in den Schulen könnte man zu kompensieren suchen durch Erweiterung der Elternrechte (z. B. Lehrerwahl durch die Eltern wie in der Schweiz) sowie eine Vergößerung der Wahlmöglichkeiten durch Lockerung der staatlichen Schulaufsicht und Vergrößerung des Spielraums für private Schulinitiativen. Wenn der Wert des Gutes Gesundheit unangetastet bleibt, warum sollte man nicht auch hier Sozialstationen oder Selbsthilfe aus Kostenentlastungsgründen wie aus Gründen vergrößerter Wahlmöglichkeiten als gültige Alternativen zum traditionellen Krankenhaus- und Pflegebetrieb akzeptieren? Teilprivatisierungen von Funktionen, die bisher „von Staats wegen“ ausgeübt wurden, gehören ebenso zu einer Demokratisierung des Staates unter veränderten Verhältnissen. Privatisierungen (bei Bahn und Post genauso wie im Kulturbereich) sind nicht an sich schlecht, sondern nach den damit verbundenen Zielvorstellungen zu beurteilen. Ganz generell, so denke ich, kann die Entstaatlichung auch in Bereichen in Kauf genommen werden, die Grundgüter einer menschlichen Existenz sichern sollen, vorausgesetzt, die Ziele sind klar umrissen und die Beteiligung und Wahlmöglichkeit der Bürger über das Wie werden dadurch erhöht.

Man sollte noch weiter gehen und die „Entbeamtung“ des Staatsapparates ins Auge fassen. Planungsaufgaben sollten nur noch unter der Oberhohheit von Ämtern, aber nicht mehr durch diese selbst durchgeführt werden. Das würde zu schlankeren Institutionen führen und könnte die öffentliche Transparenz erhöhen, denn via in diesem Falle ja notwendige Ausschreibungen würden Fragen, die sonst nur allzuoft im Beziehungsgestrüpp und technokratischen Dickicht der Ministerien und Ämter hängenbleiben, systematischer Gegenstand öffentlicher Diskurse werden.

Natürlich, die Bundesrepublik kann auch so weitermachen wie bisher. Das aber birgt demokratische Risiken, denn selbst die „negative“ Rechtfertigung des bürokratischen Sozialstaats alten Typs, er garantiere die gerechte Schlechtbehandlung aller, gilt zusehends weniger. Will man diese Risiken vermeiden, dann geht es für die BRD 1992 darum, das politische Dispositiv einer auf der Vertragsidee beruhenden Gesellschaft, deren Agenten die überkommenen Interessensverbände sind, den sich verändernden Verhältnissen anzupassen. Damit das gelingen kann, bedarf es zweierlei: einer politischen Kraft, die bereit wäre, die Schützengräben der Auseinandersetzungen des 1989 zu Ende gegangenen Jahrhunderts zu verlassen, und einer Gesellschaft, die die Spielräume der vielbeschworenen „civil society“ auch nutzt. Ulrich Hausmann