Die Leiden des jungen Jona

■ Der 18jährige Namibier Jona Ipinge, Opfer eines brutalen rassistischen Gewaltaktes in Wittenberge, liegt seit über einem Jahr mit Knochenbrüchen im Krankenhaus/ Niemand hat sich bei ihm entschuldigt/ Seine Zukunft ist ungewiß

Mitte. Einen Steinwurf vom Krankenhaus Charité entfernt führt der »Schwarze Weg« zum Stadion der Weltjugend. Wann wird der junge Schwarze, der früher so gerne Sport getrieben hat, ihn ohne Krücken entlang laufen können? Seit über einem Jahr liegt der 18jährige Jona Ipinge aus Namibia mit komplizierten Knochenbrüchen in der Klinik. Wartend. Hoffend. Wartend. Deprimiert. Fotografieren lassen möchte er sich lieber nicht. »Wenn ich gesund wäre«, seufzt er, »dann könnte ich Fußball spielen. Oder Musik machen und tanzen. Ich warte, daß ich aus diesem Gefängnis herauskomme.«

Junge Deutsche, kaum älter als er, haben ihm und seinem 19jährigen Freund Lucas Nghidiniwa die Zukunft versaut. »Der Überfall hatte gar nichts mit mir zu tun«, sagt er, als könne er es immer noch nicht glauben. Und er hat ja recht: Nicht ihm als Person galt der Angriff, sondern seiner schwarzen Hautfarbe. In Wittenberge war das, dort, wo er in einer Gruppe von anderen Namibiern im September 1989 zuerst einen Deutschkurs belegt und dann eine Schlosserlehre begonnen hatte. Sie lebten zusammen in einem Wohnheim, isoliert von der DDR-Bevölkerung. »Wohlgefühlt«, sagt er, »habe ich mich dort nie. Wir waren immer nur die Fremden. Wenn wir mal ein Mädchen kennengelernt haben, dann sagte irgendwann die Mutti: Sprich nicht mit denen.«

Wenn Jona Ipinge redet, dann dreht er oft ein wenig den Kopf mit dem roten Sportkäppi weg und schaut zum Fenster hinaus. Weich, schüchtern und überaus traurig wirkt er, und gleichzeitig unfähig, das, was man ihm angetan hat, mit Zornesworten zu benennen, Haß mit Haß zu beantworten. Am Abend des 2. Mai 1991 hatte er im Schlaf gelegen, als Deutsche in der schmuddeligen Disco von Wittenberge drei Schwarze angriffen. Einer von ihnen fügte den Aggressoren in Notwehr Messerstiche zu. Darauf zog eine Horde von 20 bis 35 deutschen Jugendlichen, durch CB-Hobbyfunker alarmiert, zum Wohnheim der Namibier. Mit Messern und Gaspistolen bewaffnet, stürmten sie die Wohnung, in der auch Jona im Bett lag. In Todesangst flüchteten fünf Schwarze auf den Balkon. Drei konnten sich noch rechtzeitig abseilen, Jona Ipinge und Lucas Nghidiniwa nicht. Die Deutschen stürzten sie vom vierten Stock in die Tiefe.

Lucas, den Jona »mein Kumpel« nennt, lag mit einer schweren Kopf- und Kieferverletzung über zwei Wochen im Koma. Er verlor mehrere Zähne und hat heute noch ständig Kopfschmerzen, obwohl er längst wieder in Wittenberge arbeitet. Nur dem Umstand, daß er noch als Zeuge vor Gericht auftreten muß, hat er es zu verdanken, daß er nicht wie die anderen Namibier im Juli Deutschland verlassen muß. Im März diesen Jahres wurden vier Tatbeteiligte verurteilt, der Prozeß gegen weitere vier wurde Ende Mai wegen Verdachts auf versuchten Totschlag an die Jugendstrafkammer Potsdam abgegeben. Was für Gefühle hat Jona Ipinge, wenn er an die Täter denkt, mit denen er als Zeuge wieder konfrontiert wurde? »Im Prozeß haben sie so getan«, sagt er, »als ob so was ganz selten passiert. Aber wenn sie uns nicht vom Balkon geworfen hätten, dann hätten sie uns geschlagen und sonst was. »Euch«, und er meint die Weißen, die Deutschen, »geschieht das höchstens einmal. Aber wir sind hier nicht mehr sicher.«

Auch im Krankenhaus von Wittenberge, wo er zuerst lag, mußte er sich dumme bis rassistische Sprüche anhören. »Mach die Buschmusik aus«, herrschte ihn ein Patient an, als der 18jährige Musikfan einmal einen Kassettenrecorder lauter stellte. Die Leute vom »Immigrantenpolitischen Forum« in Kreuzberg und andere engagierte Freunde holten ihn schließlich in die Charité. Zwölf Operationen und mehrere Knochentransplantationen liegen schon hinter ihm, aber wann die aus seinem Oberschenkel herausragenden Metallschrauben endlich entfernt werden, ist noch nicht abzusehen. Wann er endlich wieder ein ganz normaler Jugendlicher sein kann, der tanzen und Ball spielen kann, steht in den Sternen.

Aber auch sonst ist seine Zukunft ungeklärt. Niemand ist gekommen und hat sich für den Gewaltakt entschuldigt, keiner der Täter, keiner von den brandenburgischen Behörden. Keine Amtsperson kam, um ihm und seinem Freund Lucas ein Ausbildungsangebot als kleine Geste der Wiedergutmachung zu unterbreiten. Bei ihrer Lehre in der DDR, sagt Jona, hätten sie kaum mehr als Feilen gelernt, »und das hätten wir auch in Namibia machen können«. Wenn er nun zurückginge, dann hätte er, zumal als Schwerbehinderter, keinerlei Chance. Seiner Familie mit den fünf Geschwistern, die die Schreckensnachricht des Überfalls direkt aus dem namibischen Radio erfuhr, würde er auf der Tasche liegen — statt ihnen umgekehrt, wie erhofft, finanziell helfen zu können. Um jedoch eine qualifizierte Ausbildung — zum Beispiel als Zahntechniker — beginnen zu können, müßte er eine Schule abschließen. Doch wer finanziert ihm die Schule? Wer kümmert sich um eine Wohnung in West-Berlin? Wer zahlt in diesem Falle den Zuschuß zur Ostberliner Krankenversicherung? Nichts ist geklärt, denn die Behörden halten fein stille. Aber das kann und darf nicht Jona Ipinges persönliche Angelegenheit sein. Rassismus ist kein Privatproblem, und es ist dem traumatisierten jungen Schwarzen nicht zu verdenken, daß er nicht in Ost-Berlin leben mag: »Die machen mich fertig, wenn ich da mit Krücken herumlaufe.«

Er sagt das so hin in seiner schüchternen, traurigen Art. Jona, der lieber tanzen würde, hat sich statt dessen in der Ödnis des Klinikalltags für die Probleme des Rassismus zu interessieren begonnen. Daß die Weißen in Namibia die Kolonialherren waren und manche Deutsche dort bis heute Hakenkreuze in ihren Kneipen aufhängen, wußte er schon. Aufmerksam verfolgt er nun aber auch Ereignisse wie die Aufstände in Los Angeles. »In den USA sind die Kriminellen immer die Schwarzen«, sagt er und kritisiert, daß in den Medien »stets nur Weiße zu Wort kommen«. Auch in Deutschland, fügt er hinzu, seien bei ausländerfeindlichen Ausschreitungen überproportional viele Schwarze ermordet worden. Aber ein umgekehrter Rassist, sagt Jona, wolle er dennoch nicht werden. Der Schwarze Weg am Rande der Charité — in welche Zukunft führt er? Ute Scheub