Krieg ist Menstruationsneid

■ Vadim Sidur: Skulpturen und Mutationen im Scheunenviertel

Einer der wichtigsten und besten Künstler nach dem Zweiten Weltkrieg, nicht nur in Rußland und der Sowjetunion. Einer, der von diesem Krieg beschädigt wurde, körperlich — er hat Zeit seines Lebens an einer Verletzung gelitten —, vor allem jedoch seelisch. Er hat sich mit dem Thema Krieg außerordentlich aktiv und ehrlich auseinandergesetzt. Seine traumatischen Erlebnisse als Kind und während des Krieges thematisierte er später in seinen Skulpturen, zu einem großen Teil Ready-made-Montagen, zum anderem expressive Figurationen in der Tradition der Groszschen Zeichnung mit einem Gefühl für Volumen, das dem Giacomettis, Archipenkos und Moores ebenbürtig ist.

Die Montagen aus gefundenen Materialien, vor allem in der Sarg- Kunst Sidurs, besitzen eine völlig andere Ausstrahlung als die westlichen »objets trouvées«. Die Gegenstände sind nicht nur anders — für einen Zuschauer hierzulande fremd und unidentifizierbar in ihrer ursprünglichen Funktion —, sondern werden zu neuen Bedeutungen und Konstellationen zusammengetragen, die den Grundgedanken Sidurs wiedergeben: die Furcht vor der degenerativen Mutation der Menschheit, deren Beweise und Beispiele der Künstler zu Genüge in seinem Leben betrachten durfte.

Im Scheunenviertel werden drei seiner »Särge« gezeigt: »Der Mann«, »Die Frau«, »Das Kind«. In schlichte Holzkisten gelegt, fügen sich Alteisenstücke zu antropomorphischen Gestalten zusammen. Die unbeirrte Hand des Künstlers spielt mit unseren Assoziationen — nie wird eine Nachahmung der Natur angestrebt, die den Haufen Schrott vergessen läßt. Die Übertragung dieser Assoziation auf das conditio humana ist schon eine Sache des Betrachters. Anders als bei Duchamp werden Sidurs Skulpturen aus Elementen zusammengesetzt, deren gefühlsmäßige und ontologische Bedeutung zurück auf die dargestellte Realität des Menschen übertragen wird. Von Surrealisten (Magritte) unterscheidet ihn die »Logik der Unterschrift«. Es wird nicht gesagt: »Das ist keine Pfeife« (»This is not a love song«, Yello). Der Künstler benutzt eine subtilere Logik, er nennt den Satz der gefundenen Objekte: »eine Frau«. Durch die offene Struktur dieses Satzes läßt er jedoch unterschwellig zu, weiter eine Mühl-Ansammlung zu perzipieren. Dadurch erzeugt er einen doppelten Verfremdungseffekt.

Die Sargskulpturen Sidurs lassen sich wie Texte lesen, die keinen Anspruch auf einen strengen erzählerischen Zusammenhang erheben. Jedes stark ausgegrenzte Fragment bleibt in sich autonom und entwickelt dynamische Beziehungen zu anderen Teilen: die große Feder der »Lunge« zu den Gummihandschuhen der »Hände« und der Gußeisenglocke des »Bauches«, alle Elemente zu den Abflußrohren anderer Glieder. Abflußrohre sind das beliebteste Material Sidurs, diese schäbigen, groben und schweren Verlängerungen des menschlichen Metabolismus. Sidur baut aus ihnen Leiber, Phallusse, Glieder seiner Gestalten. Die wichtigsten Zeichnungszyklen Sidurs, die Mutationen, sind auch eine logische Entwicklung dieser Betrachtung der ontologisch niederträchtigen, abfälligen Existenz. — Auch die kleine Werkauswahl, die in Berlin gezeigt wird, präsentiert die drei wichtigsten Felder seiner Arbeit. Außer der neodadaistischen Sarg- Kunst und den Mutationen-Zeichnungen werden seine synthetischen Plastiken ausgestellt. Zwischen diesen drei Werkgruppen gibt es Gemeinsamkeiten und Verbindungen. Die ithyphallische, synthetische Plastik Zentaur, halb Mensch, halb Phallus auf vier Beinen, kann als Interpretationsschlüssel zum Werk Sidurs dienen. Das männliche Glied ist ein konstantes Element seiner »Mutationszeichnungen«, das er an alle Körperstellen steckt: als Zunge, als Finger, als Flügel, aber auch als Schußwaffen jeder Art. In der Sarg- Kunst verzichtet er ebenfalls nicht auf überdimensionale Penisse aus Abflußrohren. Diese Obsession kann nur auf dem Hintergrund des Krieges und der erlebten Gewalt verstanden werden. Die ambivalente Haltung Sidurs zur männlichen Sexualität wirkt in seinem »Zentaur« am stärksten: gleichzeitig Stolz und Liebe, Haß und Furcht. Der Mann als Sklave seiner Gewalttriebe. Auf dem Weg zur Galerie im Scheunenviertel steht es passend auf eine Mauer gespritzt: »Krieg ist Menstruationsneid. Die Männer wollen auch mal bluten«.

Vadim Sidur war kein Hofkünstler. Früher zwar bekannt, wurde er in Rußland erst mit der retrospektiven Ausstellung 1990, vier Jahre nach seinem Tod, zum Nationalkünstler (nicht im Propagandasinne, sondern in dem des allgemeinen Empfindens). Seit den siebziger Jahren hatte er Verehrer und Freunde im Ausland, allem voran ausgerechnet in Deutschland. Einige seiner Plastiken stehen in Deutschland auf öffentlichen Plätzen (Berlin, Kassel), viele Werke befinden sich im Museum Bochum und im privaten Besitz. Die Ausstellung in der Weinmeisterstraße wäre ohne den deutschen Sidur-Promotor Karl Eimermacher unmöglich. Die Retrospektive in Moskau begleitete einen Gedichtband Sidurs, illustriert von ihm mit sanften, erotischen Zeichnungen. Wohlbemerkt: Kein einziges Mal benutzt der Künstler in diesem Buch über die Liebe, das Altwerden und Sterben die Penisdarstellung.

Mit derselben synthetischen Kraft wie die Treblinka-Skulptur Sidurs vor dem Amtsgericht in Charlottenburg, die die Opferleichen wie die weichen Uhren Dalis aufeinanderstapelt, reduziert Sidur auch seinen Invaliden. Ein Rohr, das immer noch jämmerliche phallische Aggression nach vorne schießt, ist sein Korpus, beinlos stützt er seine Hände auf zwei Holzstücke. Viele ähnliche Invaliden sah man früher in Osteuropa: auf einem Brett mit Rädern aus Kugellagern bewegten sie sich mittels der Holzstücke wie halbierte Skilangläufer durch die Städte fort. Das Trauma Sidurs ist nicht ausgestanden: die Kriege im Balkan und Kaukasus liefern immer neue Krüppel als Stoff für unsere Alpträume. Piotr Olszowka

Sidurs Skulpturen und Mutationen sind noch bis 2. Juli in der Galerie im Scheunenviertel, Weinmeisterstr. 8, zu sehen: täglich von 10 bis 18 Uhr.