„Wir müssen dem Blutvergießen ein Ende setzen“

Rußland will sich militärisch in die bürgerkriegsähnlichen Konflikte von Moldova und Georgien einmischen  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

„Ich als Vizepräsident Rußlands sehe mich in Abwesenheit des Präsidenten und im Zusammenhang mit den Ereignissen in Moldova, Pridnjestrowien, Georgien und Südossetien gezwungen, mich mit einer Erklärung an Sie zu wenden.“ Mit diesen Worten begann Alexander Rutskoi am Samstag abend vor den Fernsehkameras darzulegen, warum Rußland in zwei der grausamsten Bürgerkriege auf dem ehemaligen GUS-Terrain nunmehr offiziell eingreifen will. Vorausgegangen war eine mehrstündige Krisensitzung der russischen Regierung, auf der die Rede Rutskois gemeinsam formuliert wurde. Wörtlich ist darin zwar nur von dem Recht der in den beiden Krisengebieten stationierten russischen Truppe die Rede, sich gegen Angriffe und Geiselnahmen zu verteidigen. Doch es gibt auch folgenden Satz: „Wir haben die Absicht, dem Massenmorden an der friedlichen Bevölkerung entschieden ein Ende zu machen.“ Ein Hinweis darauf, daß Rußland auch zugunsten bedrohter Minderheiten einzugreifen gedenkt. Das Ende der Erklärung läßt schließlich keinen Zweifel daran, daß auch Rußland sich seit dem Wochenende im Kriegszustand befindet: „In diesen schweren Minuten rechnen wir mit dem Verständnis und der Unterstützung des diplomatischen Corps und aller Bürger der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten und des multinationalen Rußland.“

Haben Vizepräsident Rutskoi und Parlamentspräsident Chasbulatow die Abwesenheit des Präsidenten genutzt, um ein Exempel nationaler Größe zu demonstrieren? Tatsächlich wurde auf der entsprechenden Krisensitzung der russischen Regierung auch die innenpolitische Situation in Moskau erörtert. Denn für heute ist unter anderem ein unsanktioniertes Massenmeeting der Anhänger rechtsnationaler und faschistoider Verbände aus ganz Rußland zu befürcheten. Sie fordern einen Extraanteil am staatlichen Fernsehprogramm. Einige von ihnen wollen sogar durch einen Sturm auf das Gefängnis „Matrosenruhe“ die dort in ihren Augen als „Gewissensgefangene“ einsitzenden August-Putschisten befreien. Ohne Zweifel wird Rutskois Erklärung diesen Kreisen einigen Wind aus den Segeln nehmen. Daß sie ebenfalls mit Präsident Jelzin abgestimmt war, erwies sich spätestens bei dessen Landung gestern früh auf dem Moskauer Flughafen Wnukowo, wo er sagte: „Wir möchten alle Angelegenheiten am Verhandlungstisch klären. Aber wenn Dutzende von Menschen umgebracht werden und ein Krieg im Gange ist, könen wir nicht untätig bleiben, besonders wenn das an unseren Grenzen passiert. In diesem Falle müssen wir reagieren, um die Menschen zu verteidigen und dem Blutvergießen ein Ende zu setzen. Dazu sind wir stark genug.“

Offenbar koordiniert mit den Vorstößen der russischen Führungsspitze hatte am Samstag abend der Militärische Sowjet der in Moldova stationierten 14. Russischen Armee die Regierung und das Parlament des Landes ultimativ aufgefordert, das Feuer in der Bezirksstadt Bendery einzustellen. „Ansonsten“, heißt es in der Resolution, „behalten sich die Soldaten das Recht vor, zur Waffe zu greifen, worüber wir die örtliche Bevölkerung zu unterrichten bitten.“ Bendery ist das Zentrum der von russischstämmigen Bürgern Moldovas bewohnten Region Pridnjestrowien, die sich eigenmächtig zur autonomen „Dnestr-Republik“ erklärt hatte. Dort marschierten am 18.Juni moldovanische Militär- und Polizeieinheiten ein. Augenzeugen zufolge waren infolge der Aktion die Straßen der Stadt von Dutzenden Toten verstopft. Das Stadtexekutivkomitee, in dem sich — wie es in der Erklärung des russischen Vizepräsidenten heißt, „die gesetzlich gewählten Stadtverordneten“ verschanzt hatten, wurde erbittert belagert. Anlagen der 14. Armee in der Stadt, darunter die Kantine und eine Kaserne, wurden in Brand gesetzt. Die Explosion eines 200-Tonnen-Tanks mit Raketentreibstoff aufgrund eines Terroranschlages forderte Tote und Verwundete. Gestern hatte sich das Blatt in Bendery wieder gewendet. Schutztruppen der örtlichen Bevölkerung war es gelungen, die moldovanischen Streitkräfte aus ihren seit Freitag abend eroberten Positionen zu vertreiben.

Noch viel krasser spitzte sich die Situation im südossetischen Zchinval zu, deren linksufrige Hälfte am Samstag von Einheiten der georgischen Nationalgarde eingenommen wurde, die von Georgiens Hauptstadt Tbilissi aus nicht mehr lenkbar sind. Die Sieger stellten den Einwohnern ein Ultimatum, die Stadt bis gestern 18 Uhr zu verlassen. Anderenfalls werde es „Strafaktionen“ geben. Auf die Heckenschützen der Verteidiger der Reststadt bewegte sich unterdessen über die Berge ein gewaltiger Strom von Panzern, fahrbaren Raketenstellungen und Grad- Geschützen zu. Da die Aktionen der dortigen georgischen Truppen offenbar auf die physische Vernichtung des kleinen ossetischen Volkes zielen, versuchten viele Menschen aus Zchinval verzweifelt, durch den Bombenhagel zu flüchten. Der Vorsitzende des georgischen Staatsrates, Eduard Schewardnadse, dessen letzte Verlautbarungen Alexander Rutskoi in seiner Erklärung als „zynisch“ bezeichnet hatte, protestierte noch Sonnabend nacht gegen den Schritt Rußlands. Er warf den russischen Truppen bei Zchinval vor, georgische Dörfer angegriffen zu haben, und forderte die Entsendung einer Schutztruppe der GUS in die Region. Die russische Regierung selbst hat sich in ihrem Appell an die KSZE-Länder und den UN-Sicherheitsrat um Hilfe gewandt.