Mit Rockmusik gegen WAA Sellafield

Trotz Verbots fanden Protestaktionen vor der britischen Wiederaufbereitungsanlage statt  ■ Aus Sellafield Jochen Vorfelder

Hätte Kolumbus vor 500 Jahren in einer Mediengesellschaft gelebt, dann wäre die Eroberung der Neuen Welt wohl ähnlich inszeniert ausgefallen: Das Flaggschiff im Hintergrund auf hoher See, der strahlende Held vor dem blauen Himmel am Bug des Landungsbootes und am Strand die geballte Neugierde. Fünf englische, US-amerikanische und japanische Film-Crews sowie zwanzig ausgewählte FotoreporterInnen standen am vergangenen Samstag erwartungsvoll bis über die Knie in der Irischen See, als drei Schlauchboote des Greenpeace-Schiffes „Solo“ am Strand der englischen Wiederaufarbeitungsanlage Sellafield in Cumbria millionenschwere Passagiere durch die Brandung brachten: vier Gestalten in weißen Schutzanzügen und Atemmasken gegen die Plutoniumverseuchung des Strandes. Die Mitglieder der irischen Rockband U2 setzt Fuß an Land vor Sellafield.

Die WAA-Betreiber und die Sicherheit

Bono, irischer Volksheld und Sänger der Megastar-Band: „Wir sind gekommen, weil wir gegen diese Anlage protestieren und haben euch irischen Atommüll mitgebracht.“ Sprach‘s und schleppte unter prasselndem Fotogewitter mit seinen Bandkollegen symbolisch zwei Fässer zu der Barrikade, die etwa 100 englische Greenpeace-AktivistInnen bereits im Morgengrauen vor der Atomanlage aufgebaut hatten.

Die mediengerechte Landung der Rock-Heroen war bis zum letzten Moment ungewiß. Ein Gericht in London hatte die Demonstration, die von Greenpeace und der lokalen Bürgerinitiative gegen die WAA Sellafield (CORE) für Samstag geplant worden war, nach einer Klage des Sellafield-Betreibers British Nuclear Fuel (BNFL) am Dienstag vergangener Woche verboten.

Bono und The Edge, Gitarrist der Gruppe, unisono zu der Entscheidung des Gerichts: „Es ist schade, daß wir hier nicht zu Tausenden sind. Aber wir lassen uns das Recht auf freie Meinungsäußerung nicht nehmen. BNFL hat argumentiert, daß auch eine friedliche Demonstration außer Kontrolle geraten könnte, und daß sie um die öffentliche Sicherheit besorgt seien. Das ist lachhaft. Diese Leute sind für den Tod von vielen Kindern verantwortlich, wie können sie den Begriff Sicherheit auch nur in den Mund nehmen?“

Der Aktion vorangegangen war am Abend zuvor ein ausverkauftes U2-Benefiz-Konzert „Stop Sellafield“ in Manchester vor rund 13.000 ZuhörerInnen, zu dem Bono eine illustre musikalische Kollegen- Mischung zusammengetrommelt hatte: außer Big Audio Dynamite (England), den auferstandenen Deutsch-Elektronikern Kraftwerk (ihr Song „Radioactivity“ kam wieder zu Ehren) und den US-amerikanischen Hardcore-Rappern Public Enemy (Kernaussage: „Tell those motherfuckers to shut this motherfucking plant down, ruppeldum, ruppeldum, ruppeldum...) ließ sich Alt- Star Lou Reed mit „Satellite of love“ zum Duo mit Bono auf der Bühne blicken.

Der Grund des Konzerts und der Strandaktion an der Grenzlinie zwischen Verbot und Versammlungsfreiheit, mit der Greenpeace und U2 die Auflagen des Gerichtes zwar formal nicht gebrochen, aber dennoch heftig herausgefordert haben, ist die geplante Anlage Sellafield 2. Mit dieser Erweiterung, der Themal Oxide Reprocessing Plant (THORP), will BNFL im Spätjahr eine weitere Wiederaufbereitungsanlage ans Netz bringen, die mit ihrer Umweltbelastung die WAA Sellafield 1 (früher bekannt und berüchtigt unter dem Namen Windscale) noch bei weitem übersteigt.

„Radioaktivität ver- schwindet weiträumig“

Da BNFL aus „Kosten-Nutzen- Gründen“ (Originalton BNFL) beispielsweise auf die Ausfilterung des radioaktiven Gases Krypton verzichten will, steigt mit THORP die Abgabe des Stoffes in die Umluft um 1.000 Prozent. Auch mit dem radioaktiven Fallout von Tschernobyl könnte sich Sellafield 2 messen: Nach Berechnungen auf Basis von BNFL-Zahlen soll Sellafield 2 mit voller Absicht pro Jahr etwa 11,5 Millionen Curie emittieren — und damit in etwa fünf Jahren die 50 Millionen Curie Radioaktivität erreichen, die nach sicher niedrig gehaltenen offiziellen russischen Angaben beim Gau in der Ukraine entwichen.

Bob Phillips, Sprecher von BNFL, meinte zu diesen Zahlen gegenüber den Greenpeace- und Core- Aktivisten bei der Strandaktion: „Machen Sie sich keine Sorgen, Plutonium und Radioaktivität verschwinden weiträumig in der Irischen See. Und wir sind bemüht, die Belastung für die Bevölkerung in der Nähe so niedrig wie möglich zu halten.“

Die Praxis in Sellafield sieht anders aus. BNLF leitet seit Jahrzehnten täglich sieben Millionen Liter flüssigen radioaktiven Mülls durch Pipelines in die Irische See, verursacht unter anderem durch die Aufarbeitung von abgebranntem Brennstoff aus deutschen AKWs, der regelmäßig auf Straße und Schiene nach Sellafield geschafft wird. Das Meer ist inzwischen nach BNFL-Angaben verseucht mit bis zu einer Tonne Plutonium und spült das Gift, bei dem staubkorngroße Teilchen Lungenkrebs verursachen und wenige Milligramm zu tödlichen Strahlenschäden führen können, wieder zurück an die Strände.

Ein Labor der Universität Bremen hat im Auftrag von Greenpeace inzwischen wenige Kilometer von Sellafield entfernt 9.435 Becquerel (Bq) Caesium137 und 6.747 Bq Plutonium239 pro Kilo Erde gemessen. Zum Vergleich: Eine vergleichbare Meßreihe in Deutschland zwischen 1976 und 1981 ergab in einem Kilo Ackerboden lediglich 200 Milli-Becquerel Plutonium239.