Rosensamstag auf dem Ku'damm

Zum Christopher Street Day gingen in Berlin 25.000 Lesben und Schwule auf die Straße/ Mehr Kommerz, weniger Politik als früher/ Jugendsenator Krüger demonstrierte mit  ■ Aus Berlin Micha Schulze

Lesben und Schwule bekommen zwar in aller Regel keine Kinder, zu vermehren scheinen sie sich trotzdem. Anläßlich des Christopher Street Days hopsten am Samstag in Berlin rund 25.000 Tunten, Blaustrümpfe, Lederkerle, Mannsweiber und ganz gewöhnliche Homosexuelle über den Ku'damm — 5.000 mehr als im Vorjahr. „In zehn Jahren werden wir hunderttausend sein“, geriet Berlins Senatshomobeamtin Ilse Kokula auf der Abschlußkundgebung ganz aus dem Häuschen.

Was bei TouristInnen für große Kulleraugen sorgte, lockte bei TeilnehmerInnen der Parade aber nur Gähnen hervor. Ausstaffierte Männer in Frauenkleidern, als Mönche verkleidete Lesben, mit Fingerfarben verzierte Nackedeis — was ist daran so Besonderes? „In diesem Jahr ist's irgendwie langweilig“, kommentierte ein junger Schwulenzeitungsredakteur. „Früher war's kreativer“, pflichtet ihm eine Frau aus der Lesbenbewegung bei.

Vielleicht ist es Gewöhnung: Demonstrationen von Schwulen und Lesben haben in Berlin immerhin Tradition. „Vor genau zwanzig Jahren bin ich die Strecke vom Savignyplatz zum Kudamm schon einmal gelaufen“, erinnert sich Hort Wachholz, Mitbegründer der „Homosexuellen Aktion West-Berlin“. Damals, erzählt er von der ersten Schwulendemo im Westteil, hätten Lehrer noch Kapuzen getragen, um nicht erkannt zu werden — sie fürchteten Berufsverbot.

Aber auch heute läßt sich beim Christopher Street Day mehr über das lesbisch-schwule Leben Berlins erfahren als aus jedem Stadtführer. Jedes Projekt, das etwas auf sich hält, war mit einem geschmückten Wagen vertreten. Dieses Jahr trumpften vor allem Ostberliner Gruppen auf, die überraschend drei Wagen auf die Räder gestellt hatten. Aus dem Rennen geschieden war dagegen die lesbisch-schwule Eldoradio-Redaktion, die in schwarzer Trauerkleidung dem Zug hinterher trottete. Mit dem Konkurs des alternativen Radio 100 hatten sie vergangenes Jahr ihren Sendeplatz verloren.

„Es gibt nicht einmal einen Lesbenblock“, schimpfte eine Teilnehmerin auf die „lahmen Mädels“. Die „Jungs“ stellten dagegen nicht nur zwei Drittel der DemonstrantInnen, sie waren auch bunter ausstaffiert. Schwule sind eben Männer und haben es gelernt, sich öffentlich darzustellen. Im Aids-Bereich hat sich die männliche Sozialisation jedoch bewährt: Mit einem Die-In erinnerte Act Up an 743 Berliner Männer, Frauen und Kinder, die in den letzten zehn Jahren an Aids gestorben seien. Die Aktion sollte die „unmenschliche Pflegesituation“ und drohende Mittelkürzungen für die Aids-Hilfen anprangern. Auch im Zug stand weniger die Prävention und das Kondomeverteilen im Mittelpunkt, als die Situation von HIV-Positiven und Aidskranken. „Wählen Sie unter diesen schönen kranken Männern den Positiven für diese Nacht“, trat eine „Agentur für solidarischen Beischlaf“ der Ausgrenzung auch innerhalb der Szene entgegen.

Warum Berlins Lesben und Schwule auf die Straße gingen, blieb den meisten ZuschauerInnen und JournalistInnen jedoch ein Rätsel. Statt Transparente zu tragen und Flugblätter zu verteilen, bombardierten Teilnehmer die Passanten mit Bonbons. Die Parade war noch kommerzieller geworden und erinnerte mehr an den Rosenmontag als an eine kämpferische Demonstration.

Kein Wunder, daß TouristInnen so vergnügt reagierten. „Das ist so schön wie bei André Hellers Feuerwerk vor dem Reichstag“, urteilt Klaus Helmreich aus Osnabrück, während er den dritten Film in seine Videokamera schiebt. Seine Gattin betrachtet den Homo-Umzug als offiziellen Teil der Berliner Fremdenverkehrswerbung: „Das wird sicher vom Kultusministerium finanziert.“ Hartmut Schönknecht vom CSD- Vorbereitungskomitee dementierte jedoch: „Vom Senat haben wir keine müde Mark bekommen.“ Im letzten Jahr habe der CSD sogar ein Minus von 20.000 Mark erzielt.

Für die Abschlußkundgebung wäre jeder Staatspfennig auch zu schade gewesen. „Absolut peinlich“, lautete das einmütige Urteil derjenigen, die nach der Demo am Breidtscheidtplatz ausharrten, statt sich in der nächsten Eisdiele zu kühlen. Um langatmige Reden zu vermeiden, sollte es eine „Talkrunde“ geben, der die Moderatorin Uschi Sillge jedoch nicht gewachsen war. Sie beschränkte sich auf die Durchsagen der Abendveranstaltungen, gratulierte Jugendsenator Thomas Krüger zum Geburtstag und dankte ihm artig für seine Teilnahme an der Demonstration. Der rauschebärtige Hetero und SPD-Vizechef aus dem Ostteil scheint sich zunehmend zum Lieblingspolitiker der Berliner Homos zu entwickeln. Allein in diesem Jahr machte er sich für die Homo- Ehe stark und stattete schwulen Freiluft-Sexfreunden im Cruisingpark Friedrichshain einen offiziellen Besuch ab.

Am Rande des CSD wurden allerdings schon subversive Pläne für das kommende Jahr geschmiedet. Dann findet in Berlin nämlich die europaweite Lesben- und Schwulendemo „Europride“ statt, die am nächsten Wochenende zum ersten Mal in London steigt. „Dann dürfen Demo und Kundgebung nicht mehr so provinziell sein wie dieses Jahr“, hieß es aus Kreisen der arbeitslosen Eldoradio- Redaktion, die überlegt, die „Europride“-Organisation in ihre Hände zu nehmen.