Männerdomäne Gewerkschaften

■ Die ÖTV hat Sehnsucht nach dem „starken Mann“ an der Spitze

„Bei einem Mann hätten sie sich das nicht getraut.“ Die Zuhörerin aus dem Bezirk Nordrhein-Westfalen II, die am Rande des ÖTV-Gewerkschaftstages diese Meinung vertritt, will in der Zeitung nicht namentlich erwähnt werden. Sie fürchtet die Reaktion ihrer männlichen Kollegen in der heimatlichen Kreisverwaltung. Aber sie weiß, wovon sie spricht: Die Pleite mit der verpatzten Urabstimmung nach dem Streik im öffentlichen Dienst war nicht allein das Ergebnis spontaner Unzufriedenheit an der Basis. Sie wurde auch von Teilen des Gewerkschaftsapparates geschürt. Zwar beteuern alle Delegierten — manchmal auffällig eilfertig—, sie dächten nicht im Traum daran, die Autorität der ÖTV-Vorsitzenden Monika Wulf-Mathies anzuzweifeln, erst recht nicht, sie zu stürzen. Aber untergründig ist spürbar: viele in der ÖTV haben Sehnsucht nach dem „starken Mann“ an der Spitze.

Heinz Kluncker, der Vorgänger der jetzigen Vorsitzenden, sitzt schweigend auf seinem Platz im Gästeblock der Frankenhalle. Ihm ist keine Äußerung zu den aktuellen Konflikten in der ÖTV zu entlocken. Aber natürlich ist auch ihm klar, daß er und seine Nachfolgerin zwei unterschiedliche gewerkschaftliche Stile verkörpern. Er war der gewichtige Gewerkschaftsboß von traditionellem Zuschnitt: ein Mann von unbestrittener Autorität an der Arbeiterbasis, die zu seiner Zeit und auch heute noch die entscheidende Kraft bei Arbeitskonflikten ist. Wulf-Mathies dagegen steht innergewerkschaftlich für einen Modernisierungskurs. Sie will sich nicht allein auf die brachiale Kraft der Arbeiterbereiche stützen, sondern der Vielfalt der unterschiedlichen Beschäftigteninteressen innerhalb der ÖTV größere Entfaltungsspielräume eröffnen.

Erst in den letzten Jahren hat die Frau an der Spitze der zweitgrößten Einzelgewerkschaft auch frauenpolitische Akzente gesetzt. Dies zeigte sich weniger im Programmatischen; der Frauenförderplan der ÖTV unterscheidet sich nicht wesentlich von dem anderer Gewerkschaften. Aber sie wird zunehmend ungeduldiger bei bestimmten männlichen Umgangsformen. „Gewerkschaftspolitik ist in weiten Bereichen immer noch Männerkultur“, meinte sie in ihrem Rechenschaftsbericht. Aber die Frauen hätten in den letzten Jahren „die Themen, aber auch den Umgangsstil untereinander wesentlich verändert“. Dazu hat die veränderte Mitgliederstruktur der ÖTV beigetragen. Nahezu die Hälfte aller ÖTV- Mitglieder sind Frauen, in Ostdeutschland sogar mehr als 50 Prozent. Auch die „weiblichen Themen“, zum Beispiel der Pflegenotstand, die Probleme des Sozialbereichs, sind stärker in den Vordergrund getreten. Die Vorsitzende unterstützt diesen Veränderungsprozeß durch eine gezielte Personalpolitik. Sie hat darauf gedrängt, daß bei der geplanten Erweiterung des geschäftsführenden Hauptvorstandes von sieben auf neun Mitglieder zwei Frauen aus Ostdeutschland kandidieren: die stellvertretende Vorsitzende des Bezirks Brandenburg, Jutta Schmidt aus Frankfurt/Oder, und die Görlitzer ÖTV-Sekretärin Heiderose Förster. Sie setzte durch, daß bei den Führungsposten in den fünf ostdeutschen ÖTV-Bezirken neben die aus dem Westen abkommandierten Männer jeweils eine ostdeutsche Frau gestellt wurde.

Die ÖTV ist mit rund einer Million weiblicher Mitglieder inzwischen die größte Frauenorganisation der Bundesrepublik, stellte eine Delegierte fest. Aber eine mindestens zur Hälfte weibliche Organisation ist sie noch lange nicht. Unter den 16 Bezirksleitern der ÖTV gibt es nicht eine einzige Frau.

Auch in bestimmten zentralen Gremien wie der Großen Tarifkommission sind die Frauen eindeutig unterrepräsentiert. Aber die Vorsitzende hat sehr zum Ärger traditioneller Gewerkschaftschauvis einige zentrale Positionen des Apparats in den letzten Jahren mit Frauen besetzt. Unter anderem hat vor kurzem eine Frau die traditionelle Männerdomäne Technologiepolitik übernommen. marke