Arme Seelen aus Mitteleuropa

Marieluise Fleißers „Fegefeuer in Ingolstadt“ in einer grandiosen Inszenierung am Tübinger Landestheater  ■ Von Christian Gampert

Das Stück ist ein Feind, mit dem sich zu kämpfen lohnt. Lauter so schiefhalsige Sätze von pubertierenden Kleinbürgerkindern, die sich gegenseitig massakrieren. Wenn man das inszenieren will, läßt man am Anfang ein paar Witze sagen. Das lockert.

Wie ein Spinne schwebt ein Kreuz herunter vom Himmel. Unten stehen weißgeschminkte Menschen. Vater bröckelt am Radio herum. Die Kinder sitzen am Wohnzimmertisch. Schlag zu! Ich kann nicht. Es ist mein eigen Fleisch und Blut. Dann geht's hoppehoppe aufs Tanzfest. Zwischendurch schreiben wir unsere Sünden an die Tafel. Großes Miserere. Eine Frau glaubt, sie kriegt ein Kind, dann aber doch nicht. Ein Mann wird von seinesgleichen behandelt wie ein minderwertiges Tier. Und alle gehen in die Obersekunda, sind sehr bleich und haben schwarze Ränder um die Augen.

Es geht in Marieluise Fleißers Fegefeuer von Ingolstadt darum, wie Menschen sich „chemisch miteinander verhalten“. Irgendwo zwischen Brecht und Horváth, Barlach und Lasker-Schüler findet hier der verzweifelte Existenzkampf einer Autorin statt, die ihr Leben auch später nicht gepackt hat. Aber ihr Kleinstadtlaboratorium Ingolstadt ist immer noch gut genug, das deutsche Stadttheater aufzuwecken — wenn es die richtigen Regisseure hat. Crescentia Dünßer und Otto Kulka vom verflossenen „ZeltEnsemble“ haben das Stück in Tübingen am LTT gemacht — und plötzlich spürt man wieder, wie kraftvoll und politisch Theater sein kann.

Die beiden Regisseure rücken das Stück ganz weit weg, sie beobachten einen sehr fremden Eingeborenenstamm aus Deutschland. Auf der Rampe zappeln die Kleinkinder und kleinen Bürger, und daneben — die Inszenierung findet dafür ein Leitmotiv aus einem kreischenden Geigenintervall — drehen sich mit erhobenen Händen die armen Seelen im katholischen Fegefeuer. Wie von bösen Trieben gebeutelt, mit exaltierten Körpern, in einem windschiefen Katasteramtsdeutsch püppeln sie zwischen Tanzwiese und Wohnzimmer miteinander herum, mit einer unglaublichen Wut und Kraft, man glaubt diese sonst eher zaghaften Tübinger Jungschauspieler kaum wiederzuerkennen, die kommen auf die Bühne und wollen mit ihrer ganzen Person was erzählen und schleudern einander diese fleischlos-dürren verwirrten Sätze entgegen. Das ganze Elend dieser Gesellschaft ist da mitgespielt, dieses ganze Fußball- und Kneipendeutschland, dieses Peep- Show- und Reputierlichkeitsgetue; man sieht es nur besser, wenn auf der Bühne einer sagt: Wir mögen dich eben nicht. Du bist nicht wie die anderen.

Enrique Keil spielt den Roelle, eine gliederschwenkende Menschenpuppe, der häßliche Mensch als interessanter Fall, der Ausgestoßene als präpotenter Erlösermichel. Mal glaubt er, er sei vom Teufel besessen, mal ist er das Muttersöhnchen von nebenan. Die famose Ursula Reiter spielt die Olga: ein zähes Mädchen zwischen Hingabe, Ablehnung und Scheinschwangerschaft. Er wünscht sich ein Kind, denn dann wird alles besser. Sie weiß nicht, was sie sich wünscht, denn sie ist eine Frau. Beide sind nicht erwachsen und quälen einander. Die Geschwister lästern und schmollen. Die Kameraden schlagen drauf. Eine gewisse Hermine Seitz macht Liebe. Olga geht ins Wasser und wird errettet. Herr Protasius beobachtet alles, geht zur Redaktion für Lokales und sagt: „Und da wär das Hingeschriebene.“ In Wahrheit aber bervorzugt er die Knabenliebe.

Kukla und Dünßer haben dieses niederbayerische Abnormitätenkabinett mit einer wilden Wut und einem absoluten heiligen Ernst auf die Bühne gebracht, ein Halbwüchsigendrama aus der Jugendphase des Kapitalismus. Olga hat einen verlogen-apoplektischen Vater, Roelle eine pathologisch klammernde Mutter. Die Kinderfiguren aber haben alle Sägespäne gefressen wie bei Heiner MüllersGundling, und gegen das Strohfeuer da drinnen helfen nur kalte Waschungen, demütigende Wassergüsse, die am besten die Rudelgenossen gleich selbst verabreichen: schlimmer kann man nicht kleingemacht werden als Roelle, der sich nackt ausziehen muß in der Zinkbadewanne.

Die Regisseure erfinden für die Gewalttaten des Stückes schöne, gewalttätige Bilder, sie räumen das Stück leer von psychologischem Zierrat und bauen aus dieser Reduktion wilde Szenen, hängen Gekreuzigte an die Wäscheleine, wenn der nackte Roelle von den Gleichaltrigen aberichtet und getauft wird, lassen Liebende in erotischer Hysterie nebeneinander knien und raufende Schüler wie mit Windmühlenflügeln aufeinanderschlagen — immer ist der liebe Herr Jesus der Garant eines schlechten Gewissens und sind Mehrwert und Sittsamkeit die besten Argumente.

Das geht bis hin zur Steinigung des Außenseiters Roelle, die man in Tübingen als Hörspiel inszeniert. Nachher läuft Roelle mit verbundenem Kopf und einer viel zu kleinen Trachtenjacke umher, erbricht wirre Gefühle und schleift die Olga über den Boden. Die will nach Amerika, „weil mich da keiner kennt“. Die anderen lachen hämisch. Die Inszenierung wirkt einerseits wie eine (stilisierte) spiritistische Sitzung, dann wieder wie ein Rattenexperiment in Weimarer Verhältnissen. Mal zitiert man den Struwwelpeter, mal Gangsterlatein. Wilde, bewußtlose Leiber rennen gegen die Verhältnisse an, und die Tübinger Schauspieler bringen das Kunststück fertig, die Figuren ganz aggressiv nach außen zu spielen, deren Psyche zu zerbrechen. „Häng dich am besten auf!“ — „Ich bin nicht deine Leich!“ Oder, noch schöner, trotziger: „Ich will einfach weinen. Das laß ich mir nicht nehmen.“

Nicole Marischka mimt die zu kurz gekommene Schmollmaid, Christine Sommer wirft sich wie die junge Jeanne Moreau an Männer ran. Christian Lugerth ist ein valentinesker Eisheiliger und Kommentator, Hubert Harzer ein wächserner Papa. Die Inszenierung ist eine Hinrichtung: sie räumt mit der Vorstellung auf, daß in Mitteleuropa so etwas wie Vernunft existiert. Es ist die beste Inszenierung, die ich in dieser Spielzeit gesehen habe, ein Fegefeuer für Tübingen — das ganze Stuttgarter Staatstheater kann dagegen zumachen.

Sich töten: eine Form der Liebe. Olga und Roelle tun es über zwei Stunden lang. Am Ende, wenn laut Textbuch der Roelle seinen Beichtzettel wie eine Hostie aufessen müßte, sehen wir einen zitternden Jugendlichen, der sich mit kaltem Wasser kasteit: das ist das Christentum. Dann geht der Vorhang runter, und wir sehen nur noch Roelles Kopf auf einem Bildschirm: das tägliche Fernsehen. Das ist das BILD, das bleibt.

Landestheater Tübingen: Fegefeuer in Ingolstadt von Marieluise Fleißer. Inszenierung: Crescentia Dünßer. Co-Regie und Bühne: Otto Kukla. Mit Ursula Reiter, Enrique Keil, Christian Lugeth, Nicole Marischka u.a. Nächste Vorstellungen: 25. und 26.Juni