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Old Shatterhand bei den Schweden

Mit dem verdienten 3:2-Sieg gegen Gastgeber Schweden sind die deutschen Kicker im EM-Finale  ■ Aus Stockholm Matti Lieske

Das Programmheft hatte es schon vorher geahnt: „Auf irgendeine seltsame Art gelingt es ihnen immer, die Endphase der großen Turniere zu erreichen.“ Und auch Anders Limpar, Schwedens nicht gerade in Bestform befindlicher Mittelfeldstar von Arsenal London, hatte es geahnt: „Sie sind so stark. Holland hat die beste Mannschaft, aber ich fürchte sie mehr. Sie sind so, so stark.“ Die Rede war von den Deutschen, die im Halbfinale der Europameisterschaft gegen Schweden weiter kräftig an ihrem Mythos als perfekte Turniermannschaft bastelten.

Wie etwa bei den Weltmeisterschaften 1982 und 1986 waren sie im Semifinale nach äußerst holpriger und mittelmäßiger Vorrunde plötzlich voll da und zwangen einen Gegner in die Knie, der seine beste Zeit bei dieser Veranstaltung sichtlich hinter sich hatte. „Die Schweden waren deutlich schlechter als in den drei ersten Spielen“, urteilte Franz Beckenbauer, „da sind sie ein sehr hohes Tempo gegangen. Vielleicht sind sie das nicht gewöhnt.“

Weit mehr als von fehlender Kraft waren sie jedoch von ihrem Respekt gelähmt. Limpar hatte vorher ohne weiteres zugestanden, daß allein der Ruf der Deutschen oft ausreiche, Spiele aus dem Feuer zu reißen, die sie eigentlich verlieren müßten. Das war beim Auftaktmatch gegen die GUS der Fall, diesmal allerdings waren sie nie in Gefahr zu verlieren. „Wir hatten das Spiel, abgesehen vielleicht von den letzten zwei Minuten, die ganze Zeit im Griff“, strahlte Jürgen Klinsmann, „ich glaube schon, daß das voll okay war, was da heute abgelaufen ist.“

Zumindest taktisch und physisch waren die Deutschen eindeutig überlegen. Standen die schwedischen Stürmer Brolin und Dahlin meist, auf Anspiele wartend, herum, hetzten die deutschen Spitzen Riedle und Klinsmann wie besessen durch des Gegners Hälfte und störten dessen Spielaufbau bereits im Ansatz. Die Schweden wirkten ohne die gesperrten Stefan Schwarz und Patrick Andersson verkrampft und desorientiert, jeder Positonswechsel im deutschen Mittelfeld verwirrte sie maßlos, überall klafften Löcher, Torwart Ravelli schimpfte wie ein Rohrspatz, und sie vermochten die meist über den erneut hervorragenden Häßler laufenden Kombinationen nur durch Fouls zu stören, die der leichtgläubige Schiedsrichter Tullio Lanese auch bereitwillig pfiff.

Nach Häßlers bildschönem Freistoßtor in der 11.Minute kontrollierten die Deutschen die Partie und es entwickelte sich ein gräßliches Gekicke. „Ihre Sicherheit gibt ihnen Sicherheit“, analysierte Schwedens Coach Tommy Svensson unübertrefflich und meinte damit das routinierte Paßspiel, das zu 80 Prozent aus Quer- und Rückpässen bestand. Berti Vogts nennt so was Kontrolle und findet das prima: „Wir haben diesmal 90 Minuten guten Fußball gespielt, nicht nur eine Halbzeit.“

Nach der Pause löste sich langsam die schwedische Verkrampfung, sie begannen, mehr Druck auszuüben und kassierten prompt das 0:2. Jonas Thern ließ sich von Häßler in der 59.Minute den Ball abjagen, Sammer setzte sich links durch und paßte zum völlig freistehenden Riedle. Als Helmer fünf Minuten später Ingesson foulte und Brolin den Elfmeter verwandelte, brandete noch einmal anfeuernder Jubel durch das Rasunda-Stadion, doch die leicht komödiantisch angehauchte 89.Minute machte allen Hoffnungen ein Ende. Helmer durfte ungehindert durchs Mittelfeld dribbeln und zu Riedle spielen, der das 3:1 schoß, im Gegenzug griff sich Torhüter Illgner anstelle des Balles den Kopf von Kennet Andersson — eine Verwechslung, die der indignierte Ball mit einem eleganten Hüpfer ins Tor bestrafte. „Illgner hat sich bei mir entschuldigt“, sagte Vogts hinterher, die Sitten im deutschen Lager sind streng.

Der zweiminütige schwedische Angriffswirbel in der Nachspielzeit verpuffte folgenlos und es war wieder passiert. Die Deutschen hatten nach langem Wandel am Abgrund das Endspiel erreicht und offenbarten auch gleich, was sie so stark macht: ihre unerschütterliche Überzeugung von der eigenen Phänomenalität. Mögen die Nackenschläge auch noch so herbe niederprasseln, sie halten sich einfach weiter für die Größten. Von den Russen blamiert, von den Holländern ausgespielt, daß man eine zweistellige Niederlage befürchten mußte, nur Dank schottischer Hilfe überhaupt weiter — alles vergessen: We are the champions.

Die Spieler messen sich wie gewohnt nur am Erreichten und sind beleidigt, wenn man ihre Ballkünste nicht sonderlich beeindruckend findet. „Alles war angeblich schlecht“, jammert Matthias Sammer stellvertretend für sein Team, „die Vorbereitung war schlecht, das Spiel gegen die Russen war schlecht, gegen Schottland haben wir auch mit Glück gewonnen, gegen die Holländer saumäßig gespielt, den Schotten müssen wir angeblich ein paar Kisten Whiskey spendieren — und jetzt sind wir im Finale. Da stimmt doch was nicht.“

Es stimmt alles, und Berti Vogts ist darüber keineswegs überrascht. „Ich habe immer gewußt, daß wir ins Finale kommen“, verkündet er mit geradezu atemberaubender Dreistigkeit. Und dann schwingt sich der Karl May des deutschen Fußballs auf sein hohes Roß und galoppiert hinaus in den Llano Estacado des teutonischen Geistes. „Die Deutschen“, belehrt Vogts die Welt, „besitzen eine Qualität, und das ist eine Mentalität, die Arbeit heißt.“ Old Shatterhand hätte es nicht besser sagen können.

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