„Wir sind hier nicht in Europa“

Nach der Auflösung der Sowjetunion stellt sich die Frage der ökonomischen Überlebensfähigkeit der Republik Moldova/ Großteil der Bevölkerung befürchtet „Wiedervereinigung“ mit Rumänien  ■ Aus Moldova Keno Verseck

„Was sollen wir denn mit Rußland oder der Ukraine“, sagt der Schaffner auf die Frage, ob er für oder gegen die Vereinigung von Moldova und Rumänien sei. Daß er kein Rumänisch spricht, schreckt ihn nicht. „Ich war oft in Rumänien, meine Frau arbeitet dort. Da läuft es wirtschaftlich viel besser als hier.“ Auch die Nationalitäten in Moldova — hauptsächlich Rumänen, Ukrainer und Russen — kommen nach seiner Meinung gut miteinander aus.

Der russische Schaffner aus Kischinjow gehört gleich zwei Minderheiten an, einer nationalen und einer politischen — der Befürworter einer „Wiedervereinigung“ Moldovas mit Rumänien. Der größte Teil der Bevölkerung in der ehemaligen Sowjetrepublik will davon bis jetzt nichts wissen. Als die Moldovaner bei der „großen Volksversammlung“ am 27. August 1991 der Souveränitätserklärung ihres Präsidenten Mircea Snegur zujubelten, meinten die meisten nicht nur die Unabhängigkeit von der Sowjetunion, sondern auch die von Rumänien. Doch gibt es kaum jemanden, der eine Eigenstaatlichkeit Moldovas für eine realistische Möglichkeit hält. Für die meisten ist es nur eine Frage der Zeit bis zur „Wiedervereinigung“.

Gegen ein „Großrumänien“ sind vor allem Russen, Ukrainer und Gagausen, die zusammen etwa ein Drittel der EinwohnerInnen ausmachen. Sie befürchten, nach einer Vereinigung dasselbe Schicksal zu erleiden wie die knapp zwei Millionen Ungarn und andere Minderheiten in Rumänien. Während in der moldovanischen Hauptstadt, wo die slawische und romanische Bevölkerung je zur Hälfte vertreten sind, noch ein problemloses Miteinander herrscht, hat der Exodus der Russen und Ukrainer aus Moldova bereits begonnen.

Auch viele rumänischsprachige Moldovaner können an der Vereinigung mit Rumänien keinen Geschmack finden. Vor allem die Älteren fürchten sich vor den sozialen Folgen eines solchen Prozesses; mancher erinnert sich zudem, daß Bukarest 1918 bei der ersten Vereinigung — nach mehr als 100 Jahren russischer Herrschaft — die gesamte lokale moldovanische Administration durch seine eigene ersetzte.

Ginge es nach Moldovas Nationalisten, hätte die Wiedervereinigung längst stattgefunden. „Wir sind ein Teil Rumäniens“, sagt Iurie Rosca, Vizepräsident der Christlich-Demokratischen Volksfront (FPCD), die unter den viereinhalb Millionen Moldovanern etwa 30.000 Anhänger hat. „Es gibt nur eine Möglichkeit, das Verbrechen des Molotow- Ribbentrop-Paktes wiedergutzumachen. Das wird geschehen, und wahrscheinlich bald.“

Auch Viorel Ciubotaru, außenpolitischer Sekretär der kleinen sozialdemokratischen Partei Moldovas (PSDM) und Parlamentsabgeordneter, sieht keine Alternative zur Wiedervereinigung. Das heißt für ihn allerdings nicht, daß er sie unbedingt will. Neben dem ökonomischen Druck aus der Ukraine und Rußland, dem Moldova als unabhängiger Staat langfristig nicht standhalten könne, sieht er vor allem den Transnistrien- Konflikt als Faktor einer beschleunigten Vereinigung, im Zuge derer Moldova Transnistrien (Dnestr-Republik) vielleicht aufgeben müßte.

„Wir sind zuerst für Menschenrechte“, sagt Ciubotaru. „Die können zur Zeit weder in Moldova noch in Rumänien garantiert werden. Wenn die Vereinigung dauerhaft sein soll, dann muß sie eine demokratische sein. Aber gegenwärtig existieren weder hier noch in Rumänien demokratische Spielregeln. Deshalb wollen wir als einzige politische Kraft in diesem Land einen demokratischen Staat aufbauen.“

Wie schwer dieses Ziel durchzusetzen sein wird, weiß Ciubotaru. Moldova wird von politischen und ökonomischen Cliquen regiert. Dagegen erscheint selbst Rumänien als hochentwickeltes, westliches Land. Eine freie, unabhängige Presse gibt es ebensowenig wie ein System parteilicher und gewerkschaftlicher Interessenvertretung. „Hier bewegt sich alles durch Emotionen und persönliche Interessen, ein bürgerliches Bewußtsein existiert nicht“, sagt er.

Kleine Parteien wie die PSDM mit ihren 300 Mitgliedern haben es schon aufgrund fehlender Finanzen schwer, sich zu etablieren. Größere Gruppierungen wie die Volksfront lavieren zwischen Regierung und Opposition hin und her, ihre Linie ist politisch unklar und zeichnet sich durch populistischen Nationalismus aus. In solcher Konstellation haben die ungeliebte Regierung, die zum größten Teil aus früheren Nomenklatura-Angehörigen besteht, und Präsident Snegur, ebenfalls ein Ex- Kommunist, leichtes Spiel, sich an der Macht zu halten. In der Vereinigungsfrage haben sie sich noch nicht festgelegt. Wenn aber der Moment komme, so ein Mitarbeiter des moldovanischen Außenministeriums, in dem Regierung und Präsident merken, daß sie ohne äußere Hilfe keine Chance mehr hätten, dann würden sie schleunigst auf Rumänien umschwenken, obwohl dies ein Scheitern ihrer proklamierten Unabhängigkeitspolitik bedeuten würde.

„Derzeit können wir nicht von einer Einheit mit Rumänien, sondern müssen von einer langfristigen Reintegration des Territoriums sprechen“, umreißt Nicou Paslaru, Berater der Presseabteilung des Präsidenten, die widersprüchliche Politik Snegurs. Die Entscheidung über die Vereinigung, die eines Tages sicher stattfinde, müsse unter Einbeziehung Rußlands, der EG und den USA geregelt werden. Für Valeriu Loghin klingen solche Worte nur zynisch. „Die politischen Kräfte machen das Spiel ohne uns, die Bevölkerung. Politische Macht zu bekommen, ist hier keine Frage von Propaganda, Wahlen oder Wahlkampf“, sagt er. „Wir sind hier nicht in Europa.“