Kopf-an-Kopf-Rennen zweier Falken

■ Die Ergebnisse der heutigen Knessetwahlen könnten für die Zukunft des Nahen Ostens entscheidend sein. Die Spitzenkandidaten - Schamir vom Likudblock und Rabin von der Arbeiterpartei - klammerten im ...

Kopf-an-Kopf-Rennen zweier Falken Die Ergebnisse der heutigen Knessetwahlen könnten für die Zukunft des Nahen Ostens entscheidend sein. Die Spitzenkandidaten — Schamir vom Likudblock und Rabin von der Arbeiterpartei — klammerten im Wahlkampf jedoch alle brisanten Fragen aus.

Informationsminister Benjamin Netanjahu hatte eine besonders schöne Kulisse gewählt, als er am Wochenende noch einmal um Unterstützung der WählerInnen bat, die heute über die zukünftige Zusammensetzung der Knesset zu entscheiden haben. Das „Delphinarium“ im Südteil von Tel Aviv ist eine Art kleine Arena, direkt an einer malerischen Mittelmeerbucht gelegen. Im Gegensatz zu den intelligenten Meeressäugern, die hier zuweilen ihre Kunststücke vorführen, mangelte es dem Auftritt des Informationsministers jedoch ganz entschieden an Eleganz. Daran änderte auch die Modenschau nichts, die um Mitternacht den krönenden Abschluß der Likud-Wahlveranstaltung bildete. Es lag nicht nur an der ohrenbetäubenden Lautstärke, mit der seine nächtliche Rede auf die rund 1.000 überwiegend jugendlichen ZuhörerInnen eindröhnte.

In den schwärzesten Farben malte er die Zukunft Israels, sollten die WählerInnen Rabin, dem aussichtsreichsten Gegenkandidaten von Ministerpräsident Schamir, den Vorzug geben. „Ihr glaubt, ihr wählt Rabin, aber ihr wählt die Arbeitspartei, und das heißt, daß die Linke an die Macht kommt“, wetterte er gegen die Taktik von Labour, im Windschatten ihres als „Falke“ aufgebauten Spitzenkandidaten wieder an die Macht zu kommen. „Wenn ihr Rabin wählt, werden euch Leute regieren wie Mohamad Darausche (Arabische Demokratische Liste), Shulamit Aloni und Yossi Sarid (Raz/Merez)!“

Über diese Kandidaten der linken Opposition, die angetreten sind, um eine große Koalition zwischen Likud und Labour zu verhindern, zog Netanjahu in so drastischen Ausdrücken her, daß mein Platznachbar sie für unübersetzbar erklärte. „Wir kennen die Programme der Parteien nur in verzerrter Form, nur aus der Polemik und Propaganda der jeweiligen Gegner. Sie sagen nicht, was sie selber wollen. Sie wollen an die Macht, das ist alles, was wir wissen“, beklagt er später. „Wenn Sie glauben, daß diese Leute hier gekommen sind, weil sie Likud wählen wollen, irren Sie sich. Man hat sie aus den umliegenden Orten mit Bussen hergekarrt. Sie haben nicht oft die Chance, sich kostenlos in der Stadt zu vergnügen.“ Bis auf einen kleinen Teil der Anwesenden, die Netanjahus Ausfälle mit frenetischem Beifall begrüßten, verhalten sich die ZuhörerInnen denn auch eher abwartend. Sie werden erst munter, als laute Disco-Musik endlich das Versprechen einlöst, daß in dieser Nacht eine Party am Meer gefeiert wird.

Selten wurden die Ergebnisse eines israelischen Wahlkampfes im In- und Ausland mit mehr Spannung erwartet als dieses Mal, und doch ist es „der langweiligste Wahlkampf, den wir je erlebt haben“, wie ein anderer Stimmeninhaber genervt anmerkt. „Niemand hat sich an die entscheidenden Fragen gewagt, niemand hat sich getraut, die Wahrheit zu sagen.“ Offenbar ist man in den Beraterzirkeln der großen Parteien zu dem Schluß gekommen, daß man diesen Wahlkampf so unpolitisch wie möglich führen muß. Die Zukunft der besetzten Gebiete, die Siedlungspolitik, die amerikanischen Kreditgarantien, alle diese Fragen sind bei den großen Parteien im Bermudadreieck der Angst um die Macht verschwunden.

Dieses Terrain haben die kleinen rechtsradikalen Parteien besetzt: Transfer — das heißt Vertreibung der PalästinenserInnen und Annexion der besetzten Gebiete, so lauten die einfachen Katastrophenlösungen, die sie allabendlich im Fernsehen präsentierten. Die großen Parteien haben auf Status quo wahrende und zugleich deutbare Formeln gesetzt — „wir geben die besetzten Gebiete nicht auf“ — und sich im Streit um die Wählergunst vor allem auf die unsicheren WählerInnen konzentriert: die unzufriedenen Teile der Likud-Stammwählerschaft und die überwiegend russischen Neueinwanderer, die immerhin rund zehn Prozent der Stimmen abgeben werden. Vor allem deshalb hat die Arbeitspartei ihren Spitzenkandidaten Rabin als Kriegshelden und politischen Falken aufgebaut, den Likud in einem Werbespot über die „Arbeitspartei als bolschewistische Gefahr“ in Bronze gegossen vom Sockel stürzen ließ.

„Ich bin wirtschaftlich rechts und politisch links“, benennt ein russischer Arzt aus „Leningrad, jetzt Petersburg“, seine Positionen. Er und seine Frau, eine Musiklehrerin, sind vor zwei Jahren nach Israel gekommen und arbeiten jetzt bei einem Buchhändler. „Wir haben Angst vor sozialistischen Wirtschaftsmodellen“, begründet der Arzt seine Entscheidung, Likud zu wählen, „Sie wissen ja, daß wir damit unsere schlechten Erfahrungen gemacht haben.“ Er bestätigt damit zumindest einen begrenzten Erfolg der Likud- Kampagne. Umfragen haben gleichwohl ergeben, daß die Einwanderer aus Enttäuschung über die unzulängliche Integrationspolitik der Regierung zu rund 60 Prozent für die Arbeitspartei stimmen wollen. Doch auch seine Frau neigt einer Entscheidung zu, die diesen Prognosen widerspricht: Sie werde sich eventuell für das linke Wahlbündnis Merez entscheiden, aber sicher ist sie sich zwei Tage vor der Wahl noch nicht.

Die russischen Einwanderer scheinen bei ihrer Wahlentscheidung zwischen rivalisierenden Optionen gefangen. Darum ist gerade ihr Votum besonders schwer abzuschätzen, das ausschlaggebend für die neue Regierungsbildung sein könnte. „Ich wähle kapitalistisch“, sagt der Arzt. Doch gehören er und seine Frau zu den privilegierten Einwanderern. „Wir haben wenigstens Arbeit gefunden, auch wenn sie nicht unserer Qualifikation entspricht, und wir haben ein Dach über dem Kopf. Vielen unserer russischen Bekannten geht es sehr schlecht. Manche denken daran, Israel wieder zu verlassen.“ Vielen fehlt es am Allernotwendigsten. Wer darauf angewiesen ist, am Abend die faulen Gemüsereste unter den Marktständen einzusammeln, um nicht zu hungern, wer nachts in Ermangelung einer Bleibe auf Bushaltestellen übernachten muß, der hofft jetzt auf eine „realistische“ Alternative — so er das Hoffen noch nicht verlernt hat.

Am Rande des Marktplatzes von Süd-Tel-Aviv, nicht weit vom „Delphinarium“ entfernt, verteilt die Stadtverwaltung kostenlos Lebensmittel an die ganz armen Einwanderer. Sie wollen nicht „mit Likud gegen Links“, wie es im Wahlslogan der Regierungspartei heißt. Sie schreckt die „bolschewistische Gefahr“ nicht, mit der Likud den Wahlkampf bestritten hat. Doch manche von ihnen schrecken auch vor weitaus realeren Gefahren nicht zurück: „Unter uns gibt es auch Leute, die sich ihren Stalinismus bewahrt haben. Das heißt im Klartext: Wer gegen uns ist, wird erschossen. Sie werden Levinger wählen“, sagt meine Gesprächspartnerin im Buchladen. Dieser Kandidat tritt allabendlich für die Liste „Thora und das ganze Land“ vor das Fernsehpublikum — und fordert freien Gebrauch der Schußwaffe in den besetzten Gebieten. Nina Corsten, Tel Aviv