Gegen den Strich

■ Eine Diskussion im Brechtzentrum Berlin über Texte zu Walter Benjamin

Kaum eine Metapher für den Begriff der Geschichte wurde populärer als die des »Angelus Novus« von Walter Benjamin. Mit aufgerissenen Augen und offenstehendem Mund weht diesem »Engel der Geschichte« ein Sturm ins Angesicht, der ihn unaufhaltsam in die Zukunft treibt. Einer Zukunft, so schrieb Walter Benjamin, »der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.«

Der Standort, von dem aus Walter Benjamin dieses Bild sieht, erlaubt keinen Überblick mehr — die Welt erscheint als ein Mittelding aus Gefängnis und Chaos, die Distanz zu den Dingen weicht einer Betroffenheit, das System dem Fragment. »Wenn die Dinge uns brennend auf den Leib rücken, muß eine Kritik entstehen, die das Brennen zum Ausdruck bringt. Sie ist keine Sache richtiger Distanz, sondern richtiger Nähe.« Mit diesen Worten beschreibt Peter Sloterdijk den empfindsamen Grund der sensiblen Theorie von Walter Benjamin. Eines ihrer schönsten Bilder ist das des Angelus Novus. Als der »Glücklose Engel« kehrte er wieder in den Gedichten von Heiner Müller und, pünktlich zum 100. Geburtstag Walter Benjamins, im Titel der Anthologie: Aber ein Sturm weht vom Paradiese her.

Die Sammlung von Texten zu Walter Benjamin wurde von ihren Herausgebern Michael Opitz und Erdmut Wizisla im Brechtzentrum Berlin vorgestellt. Der unauflösbaren Verbindung von Literatur und Philosophie im Werk Walter Benjamins entspricht die Konzeption der Anthologie, indem sie Beiträge von Wissenschaftlern und Schriftstellern vereint. Zum Credo dieses Konvoluts heißt es in seinem Vorwort: »Als das Buch 1988 in der DDR geplant wurde und erste Texte entstanden, sollte die subversive Kraft von Benjamins Denken gegen die Enge arbeiten.« Heute, vier Jahre später, weht der Sturm vom Paradiese heftiger denn je, und so war Benjamins Geschichtsbegriff, der den geheimen Untertext der Beiträge in der Anthologie bildete, zugleich das Motto der Diskussion, die die Buchpremiere begleitete.

Unter den Rednern waren Friedrich Dieckmann, Günter Hartung, Lorenz Jäger, Steffen Mensching, Hans-Eckhardt Wenzel und Richard Faber, die allesamt auch als Autoren in dieser Anthologie vertreten sind. Bemerkenswert an dieser Diskussion über die Aktualität von Benjamins Geschichtsbegriff bleibt ein merkwürdiger Beigeschmack: sehr viel wurde über Walter Benjamins Methode gesagt, aber wenig mit ihr. Offenbar sind die Ergebnisse dieser Methode leichter nachvollziehbar als ihr Weg. So waren im Übermaß der distanzierten Reflexion die Momente des »Eingedenkens« selten. In dieser Situation schienen am erhellendsten die Paradoxien auf. Zum Beispiel bei Friedrich Dieckmann, der im Spiegel der DDR-Geschichte Benjamins Revolutionsbegriff nur als ein verhängnisvolles Anhalten der Zeit verstehen kann. Zugleich aber bewertet er den Zwischenzustand und das Innehalten der Zeit zwischen November 89 und März 90 als die produktivste Phase der jüngsten deutschen Geschichte — womit Benjamin wieder ganz im Recht wäre, denn für ihn ist die Windstille im Sturm gegen den Engel der Geschichte der Augenblick der Revolution.

Heiner Müller nennt in einem Text dieses Buches die »infernalischen Aspekte« von Benjamins Wahrnehmungen das gegenwärtigste Moment. Was bleibt, ist eine Ahnung von der melancholischen Sensibilität, die das Werk Walter Benjamins seinen Interpreten voraus hat. Wenn Walter Benjamin heute durch seine Heimatstadt Berlin flanieren würde, welche Texte würden entstehen, wenn er vor dem weiten und leeren Potsdamer Platz stünde, den Mauerresten und Souvenierverkäufern. Welche Geschichte würde er zutage bringen, wenn er wieder begänne, sich in den Dingen rückwärts zu lesen. Thomas Oberender

Aber ein Sturm weht vom Paradiese her , Texte zu W.B., Reclam, 15 Mark, Die Zukunft hat ein altes Herz , Ein Film über W.B. von David Wittenberg, Brechtzentrum, Chausseestraße 125, 24.7., 20 Uhr