Die leuchtende Seite des Fußballs

In einem hochdramatischen Halbfinalspiel besiegten die Underdogs aus Dänemark EM-Titelverteidiger Niederlande mit 7:6 nach Elfmeterschießen (2:2 nach Verlängerung)  ■ Aus Göteborg Matti Lieske

Geschmack bewies der für die musikalische Berieselung zuständige Mensch im Göteborger Ullevi-Stadion, als er vor dem Elfmeterschießen des EM-Halbfinales zwischen Dänemark und den Niederlanden Monty Pythons „Always look on the bright side of life“ aus den Lautsprechern schallen ließ. Der fröhliche Gesang der Gekreuzigten aus dem Film „Das Leben des Brian“ sollte den zum Strafstoß verdammten Kickern vermutlich die nötige Zuversicht und im Falle des Scheiterns neuen Lebensmut verleihen.

Doch während die dänischen Fans nach 120 Minuten der leuchtenden Seite des Fußballs begeistert und lautstark in den Refrain einfielen, obwohl ihr Brian, der Laudrup, das Feld längst verlassen hatte, beteiligten sich die niederländischen Anhänger eher verhalten am allgemeinen Sing-a-long. Sie ahnten Böses und das zurecht. Einer der Ihren, der eigentlich zum Erlöser bestimmt schien, war ausersehen, den Part des Barrabas zu übernehmen: Marco van Basten, dem es wohl noch einige Zeit schwerfallen wird, der Sonnenseite des Lebens ins Auge zu blicken.

Ihm ging an diesem Abend so ziemlich alles daneben, zu guter Letzt auch noch der Elfmeter, der das Aus für den Titelverteidiger und den Finaleinzug für Dänemark bedeutete. „Es gibt zwei Marco van Basten“, dozierte Rinus Michels nach dem definitiven Fehlschuß seines Stürmerstars, „einen, der sich in den Dienst des Teams stellt, und einen, der für sich spielt und die Tore schießt.

Der zweite war bei diesem Turnier unglücklicherweise nicht da.“ Entweder von Torben Piechnik oder Kim Christofte bestens bewacht, bekam der Torschützenkönig der italienischen Liga keine einzige klare Chance, seine Schüsse mißlangen, seine gefürchteten direkten Abspiele gingen ins Leere, frustriert verstrickte er sich in verbissene Händel mit seinen Kontrahenten, mußte einige Kopfnüsse einstecken und konnte schließlich als einziger seinen Strafstoß nicht verwandeln.

Da auch van Bastens Kollegen vom AC Mailand, Frank Rijkaard und Ruud Gullit, nicht wie gewohnt zum Zuge kamen, war die zweite Garnitur gefordert: Dennis Bergkamp, Brian Roy, Rob Witschge, Wim Kieft. Doch das reichte nicht gegen die unbeschwert stürmenden Dänen. „Das holländische Team glaubte, es könnte Dänemark nur mit Fußballspielen besiegen“, haderte Rinus Michels, der beharrlich vor dem vermeintlich leichten Gegner gewarnt hatte, „aber die Dänen zeigten von Anfang an, daß Fußball auch Kampf ist.“ Angefeuert von den „We are red, we are white, we are danish dynamite“-Gesängen ihrer zahlreich vertretenen Anhängerschaft, waren die Dänen maßgeblich dafür verantwortlich, daß in Göteborg nach der fußballerischen Schonkost des Schweden-Deutschland-Langweilers ein hochklassiges und dramatisches Halbfinale stattfand, ein „Hitchcock, der uns bis zum letzten Elfmeter in Spannung hielt“ (Michels). Schon nach vier Minuten rannte Kim Vilfort dem überforderten Frank de Boer davon, flankte formschön zur Mitte, und Henrik Larsen köpfte das 1:0. Die Niederländer betrachteten dieses Malheur lediglich als kleinen Fauxpas und ließen sich kaum beirren. So jagte auf beiden Seiten eine Torszene die nächste, bis in der 23. Minute Rijkaard eine Flanke von Witschge zu Bergkamp köpfte, der per Aufsetzer zum Ausgleich traf.

Hollands Welt war wieder in Ordnung, die Führung schien nur eine Frage der Zeit, da schlug in der 33. Minute erneut Henrik Larsen zu, dem Koeman den Ball genau auf den Schuh köpfte. 2:1 für Dänemark, ein Schock, der den von allen guten Milan-Geistern verlassenen Favoriten bis zur Pause in den Gliedern saß. In der zweiten Halbzeit spielten die Niederlande dann zwar längst nicht so glanzvoll wie beim 3:1 gegen die Deutschen, aber sie begannen zu kämpfen. Ihr Druck wurde stärker und die Torchancen häuften sich, während die Kräfte der Dänen nachließen, die aber dennoch mit schnellen, gefährlichen Angriffen, meist über den überragenden Flemming Povlsen, die Verletzlichkeit der langsamen holländischen Abwehr bewiesen.

In den letzten zehn Minuten beorderte Dänen-Coach Möller-Nielsen schließlich alles, was Beine hatte, in die Abwehr, nicht einmal Povlsen durfte mehr über die Mittellinie. Ein Fehler, denn solchermaßen eingeschnürt kassierten sie doch noch den Ausgleich: in der 86. Minute verlängerte Gullit eine Ecke mit dem Kopf und Rijkaard jagte den im Strafraum herumirrenden Ball ins Netz. 2:2, Verlängerung. „Ich war sicher, daß unser Siegtor nur noch eine Frage der Zeit wäre, denn einige Dänen waren völlig am Ende und praktisch auf den Knien“, wunderte sich Rinus Michels, „aber sie rannten und kämpften trotzdem bis zum Schluß.“

Vergeblich bemühten sich die Niederländer, die für das Elfmeterschießen bereits Übles ahnten, um den entscheidenden Treffer — mit einem indisponierten van Basten und einem Wim Kieft, der die Tranigkeit in Person repräsentierte, war Dänemark nicht mehr zu bezwingen, konnte sich allerdings glücklich schätzen, daß die UEFA doch darauf verzichtet hatte, anstelle des Elfmeterschießens den „sudden death“ einzuführen. Für die Strafstöße reichte die Kraft gerade noch, auch wenn Kim Christofte den letzten Elfmeter aus dem Stand verwandelte, wohl aus Furcht, beim Anlauf vor Schwäche zusammenzubrechen.

Als Team von chancenlosen Urlaubern waren die Dänen ohne nennenswerte Vorbereitung als Jugoslawien-Ersatz nach Schweden gekommen, und ihr abtrünniger Landsmann Michael Laudrup hatte ihnen gar ein „Debakel“ prophezeit, als strahlende Finalisten verließen sie den Rasen des Ullevi-Stadions. „Wir haben sie spielen lassen“, resümierte Michels, „und Fußballspielen können sie auch ohne Vorbereitung.“

Niederlande: van Breukelen (Eindhoven) - Koeman (FC Barcelona) - van Tiggelen (Eindhoven), de Boer (Amsterdam - 46. Kieft/Eindhoven) - Rijkaard (AC Mailand), Wouters (München), Bergkamp (Amsterdam), Witschge (Rotterdam) - Gullit (AC Mailand), van Basten (AC Mailand), Roy (Amsterdam - 116. van't Schip/ Amsterdam).

Tore: 1:0 Larsen (6.), 1:1 Bergkamp (24.), 2:1 Larsen (33.), 2:2 Rijkaard (86.). Elfmeterschießen: 0:1 Koeman, 1:1 Larsen, van Basten verschießt, 2:1 Povlsen, 2:2 Bergkamp, 3:2 Elstrup, 3:3 Rijkaard, 4:3 Vilfort, 4:4 Witschge, 5:4 Christofte.

Dänemark: Schmeichel (Manchester U.)- Olsen (Trabzonspor) - Sivebaek (Monaco), Christofte (Bröndby), Piechnik (B. Kopenhagen) - Vilfort (Bröndby), Larsen (Lyngby), Jensen (Bröndby), Laudrup (München - 57. Elstrup/ Odense), Andersen (FC Köln - 71. Christiansen/ Lyngby) - Povlsen (Dortmund).