KOMMENTAR: Eiserne Lady wider Willen
■ Der Widerstand gegen den Reformkurs der ÖTV-Vorsitzenden ist größer geworden
Die ÖTV-Vorsitzende als eiserne Lady, immer bereit zum klassenkämpferischen Konflikt gegen den unsozialen Staat — so hätten jene Kritiker die ÖTV-Vorsitzende gern, die den Ausgang der letzten Tarifrunde auf dem Gewerkschaftstag zum Anlaß genommen haben, um mit der Stuttgarter ÖTV-Führungsspitze und besonders mit der Frau an der Spitze abzurechnen. Aber als „eiserne Lady“, das machte sie auf dem Kongreß unmißverständlich klar, fühlt sie sich persönlich und politisch verkannt. Das will sie weder innerhalb der Organisation noch im sozialen Konflikt mit dem Öffentlichen Arbeitgeber sein. Bei aller Notwendigkeit, Konflikte auszutragen: die Binnenstrukturen der Gewerkschaftsarbeit sollten nach ihrer Meinung von „Offenheit und Liberalität“ geprägt sein. Sie wird, das ist nach dem bisherigen Verlauf des ÖTV-Gewerkschaftstages leicht vorauszusehen, mit diesem Vorhaben noch viel neuen und alten Beton im Apparat und in den Köpfen der Funktionäre durchbrechen müssen.
Die Position der ÖTV-Vorsitzenden ist nach dem Gewerkschaftstag gleichzeitig geschwächt und gestärkt. Geschwächt ist sie durch ihr Stimmenergebnis bei der Vorstandwahl: Wenn man — nach Meinung aller Beobachter zurecht — unterstellt, daß sie von den ostdeutschen Delegierten nahezu geschlossen unterstützt wurde, bedeutet ihr 68-Prozent-Ergebnis, daß sie unter den westdeutschen Delegierten keine Mehrheit mehr hat. Dies ist im Vergleich zu ihrem über achtzigprozentigen Ergebnis auf dem letzten, rein westdeutschen Gewerkschaftstag ein dramatischer Vertrauensverlust für die Vorsitzende im mittleren Funktionärsapparat in Westdeutschland. Gestärkt ist sie jedoch, weil sie im Verlauf der Auseinandersetzung endlich klare gewerkschaftspolitische Positionen bezogen hat, ihre Wahl also mit einem deutlichen politischen Mandat für ihren Reformkurs verbunden wurde.
Daß die Konflikte über den zukünftigen gewerkschaftlichen Kurs während des zweiwöchigen Streiks und nun auf dem Gewerkschaftstag gerade innerhalb der ÖTV so deutlich ausbrechen, ist kein Zufall. Denn mit ihren über vierhundert Berufsgruppen, mit der kaum zu überschauenden Vielfalt der in ihr organisierten sozialen Interessen ist die ÖTV schon heute die pluralistischste von allen DGB-Gewerkschaften. Es scheint, daß die traditionsgewerkschaftliche Sehnsucht nach klaren Konfliktlinien, nach einfachen politischen Fronten um so größer wird, je mehr sich in der gesellschaftlichen Realität die sozialen Interessen ausdifferenzieren. Nur so ist zu erklären, daß Teile des ÖTV- Apparats sich in der Urabstimmung nach dem Streik populistisch der Unzufriedenheit der Basis angepaßt haben, anstatt den unter den gegebenen Kräfteverhältnissen alternativlosen Tarifkompromiß offensiv zu vertreten. Und so konstituiert sich jene widersprüchliche Negativkoalition zwischen linkspopulistischen Klassenkämpfern wie dem stellvertretenden bayrischen Landesvorsitzenden Michael Wendl und dem traditionellen rechtssozialdemokratischen Gewerkschaftsbeton in anderen Regionen, der seine Basis hauptsächlich in den Arbeiterbereichen hat.
Die Integration unterschiedlicher Interessen in einer Massenorganisation wie der ÖTV ist langfristig nicht durch bürokratische Vereinheitlichung oder unpolitischen Prozentradikalismus zu leisten. Nur durch einen breiten und offenen innergewerkschaftlichen Diskurs, durch eine Erweiterung des sozialen Interessenbegriffs über das reine Lohninteresse hinaus auf die Gesamtheit der Lebensverhältnisse von abhängig Beschäftigten kann dies geschehen. Das erfordert eine Öffnung, die positive Integration beispielweise ökologischer oder frauenpolitischer Belange in die gewerkschaftliche Politik und eine Verlagerung von Kompetenzen aus der gewerkschaftlichen Bürokratie an eine selbsttätige Basis. Die ÖTV-Vorsitzende hat in den letzten Jahren mit ihrer Kampagne „Zukunft durch Öffentliche Dienste“ erste Schritte in diese Richtung initiiert.
Dieser Weg hin zu einer offenen, demokratie-, diskurs- und gleichzeitig konfliktfähigen Gewerkschaftspolitik ist durch die Probleme der deutschen Einheit nicht leichter geworden. Denn sowohl die eklatante soziale Not im Osten wie die Besitzstandsängste der Mitglieder im Westen reaktivieren traditionsgewerkschaftliche Verhaltensmuster, arbeiten innerhalb der Gewerkschaften den großen Vereinfachern in die Hände, die glauben, sie müßten nur lauthals das Maximale fordern, um es auch durchzusetzen. Die Vermittlung zwischen ost- und westdeutschen Mitgliederinteressen ist für die Gewerkschaft ohnehin schwierig genug. Durch forcierten westdeutschen Maximalismus, wie es ein Teil der Delegierten des ÖTV-Kongresses offenbar fordert, ist sie mit Sicherheit nicht zu leisten.
Die ÖTV-Vorsitzende hat bis zum nächsten Gewerkschaftstag vier schwere Jahre vor sich. Das ist schon jetzt vorauszusehen. Die zentrifugalen Kräfte der Gewerkschaft zu bändigen und gleichzeitig die Spielräume für authentische Artikulation unterschiedlicher sozialer Interessen zu erweitern — diese Quadratur des Zirkels ist notwendig für den Weg hin zu einer modernen gewerkschaftlichen Organisation. Aber die Basis für eine derartige Politik ist in der ÖTV mit diesem Gewerkschaftstag schmaler geworden. Deshalb wird Monika Wulf-Mathies, wenn sie ihren Reformkurs tatsächlich durchsetzen will, in mancher Hinsicht doch zur eisernen Lady werden müssen — sowenig ihr diese Rolle auch gefällt. Martin Kempe
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