Marx, Mullahs und Mercedes

Nach dem Exitus der Sowjetunion steuert das mittelasiatische Usbekistan zielstrebig auf einen islamischen Gottesstaat zu — zum entschiedenen Nachteil der Russen und der Frauen  ■  VON PETER DAMMANN UND ANDRE LÜTZEN

Der Ruf „Allahu akbar!“, „Allah ist groß!“ dringt durch die Dunkelheit. „Allahu akbar“ übertönen die Lautsprecher von den Minaretten das Hupen der Ladas, Moskwitschs und Wolgas. Im Scheinwerferlicht und in der ersten Morgendämmerung sind die Milizbeamten zu erkennen, die den Straßenverkehr umleiten. Vor den Absperrungen springen bärtige Männer in wattierten Steppmänteln aus überfüllten Bussen und Taxis. Aufrecht und stolz laufen sie in ihren schwarzen Schaftstiefeln aus Ziegenleder, als hätten sie zwei Straßenecken entfernt ihr Pferde und Kamele am palastartigen Mausoleum Timurs angebunden. Am Grabmal Timurs, eines grausamen Eroberers des 15.Jahrhunderts, der Samarkand zur Hauptstadt eines Weltreiches machte.

Auf ihrem Weg drängen die Männer vorbei an Ständen mit frischgebackenen Fladenbroten, sie durchteilen die beißenden Rauchschwaden der angeheizten Holzkohlengrille. Ramadan, die vierwöchige Fastenzeit der Moslems, ist vorbei. Der oberste Imam der Samarkander Region, Mustafakul, hat zum Morgengebet am Ende der Fastenzeit aufgerufen. Das Samarkander Fernsehen überträgt dieses Gebet ins ganze Land. Ort dieser islamischen Machtdemonstration: der Registanplatz mit seinen mosaikgeschmückten Kuppeln, Säulen und Minaretten.

Beten Männer, müssen die Frauen verschwinden

Zwischen den 35 Meter hohen Torbögen der monumentalen Bauwerke legen Zehntausende Männer ihre Gebetsteppiche aus. Sie warten kniend auf den Beginn des Gebets. Sie warten lange, da der Zustrom nicht abreißt. Die wenigen Frauen müssen immer wieder ihre Plätze räumen, weil sie beim Gebet nicht vor den Männern sitzen dürfen.

Der Imam gibt derweil den Gläubigen eine politische Unterweisung. Der neue Präsident Karimow sei ein guter Präsident, erklärt der Imam. Karimow war der letzte Erste Sekretär der Kommunistischen Partei Usbekistans. Der Imam erläutert: Karimow hat Geld für die Renovierung der Moscheen zur Verfügung gestellt und islamische Festtage zu staatlichen Feiertagen bestimmt.

Über den knienden Männern auf dem Registanplatz jagen in dem Mosaik des Portalbogens der Schir-Dor- Koranschule zwei mächtige Araltiger weiße Rehe. „Das ist die Jagd der Moslems auf die Ungläubigen“, interpretiert die Dolmetscherin, als ein Tumult hinter ihr losbricht. „Die Frau darf dort nicht stehen.“ Wütend sind Männer von ihren Gebetsteppichen aufgesprungen und zeigen auf die Übersetzerin.

Sie ist Russin. Zehn Prozent der 22 Millionen usbekischen Staatsbürger sind Russen. Sie, die seit mehreren Generationen in Mittelasien leben, sind für viele Moslems nicht nur die „Ungläubigen“, sondern auch die überheblichen Kolonisten Moskaus. „Noch nie bin ich in meiner Heimatstadt so behandelt worden.“ Besonders als Frau habe sie Angst vor den islamischen Fundamentalisten, gesteht die Dolmetscherin schaudernd. Aus dem angrenzenden Tadschikistan sind schon Hunderttausende Russen geflohen.

Nach der Veranstaltung auf dem Registan treffen wir unseren Gastgeber Naim Jon, der noch seinen Gebetsteppich unter dem Arm trägt. Er ist, wie mehr als die Hälfte der 500.000 Samarkander, Tadschike. Der 35jährige arbeitet als Ingenieur bei einer Lada-Niederlassung und ist mit der Tadschikin Julbochor verheiratet. Sie haben vier Kinder, womit sie noch unter dem Landesdurchschnitt von sechs Kindern pro Familie liegen. Naim Jon hat sein Haus mit Hilfe seiner Freunde gebaut, mit denen er von der ersten bis zur zehnten Klasse in die Schule gegangen ist. Ihr Clan trifft sich fast jeden Tag in der Teestube, heute ist Sit-in beim Kaufmann: Er hat Geburtstag.

Fünfzehn Männer im Schneidersitz oder ausgestreckt auf Kissen und Teppichen. Ein langer flacher Tisch ist beladen mir würzigen Salaten, knusprigen Hühnern, salzig gerösteten Aprikosenkernen, warmen Fladenbroten, gebratenen Enten, Teekannen, Wodka und Samarkander Kognak. Auf einem Podest stehen ein Fernseh- und ein Videogerät. Abwechselnd glimmern brutale Karatefilme und Bauchtänzerinnen über den Bildschirm. Bei gedämpftem Licht schieben sich einige Männer opiumhaltiges Tabakextrakt unter die Zunge. So gockelhaft-männlich sich einige der Männer sonst in der Öffentlichkeit benehmen, so albern und kindlich unbeschwert kichern sie jetzt, als einer von ihnen dem Gastgeber Tee in den Nacken kippt.

Völlig verschiedene Männer liegen und hocken auf dem Fußboden. Ein fetter ehemaliger Box-Champion, der wegen einer Vergewaltigung im Gefängnis saß. Ein lachender Zollbeamter, ausschließlich Goldkronen auf den Vorderzähnen. Ein unauffälliger, schmächtiger Tadschikischlehrer, der vor der Tür Backgammon mit dem ruhigen Chiropraktiker spielt. Der sonderbare, aber sympathische Arzt mischt sich nur selten in die Gespräche ein, dann aber umso heftiger, wenn er etwa den Beißer wegen dessen sexueller Protzerei als vermutlich impotent verspottet. Der Schlachter und der korpulente Ingenieur aus der Sino-Kühlschrankfabrik wollen wissen, ob wir verheiratet seien. „Der da“, zeigen die anderen auf den verlegenen Ingenieur, „hat fünf Frauen und 21 Kinder.“

Auch ein anderer Mann erklärt ganz ernst, er habe vier Frauen. Eine sei die offizielle Frau, aber auch die anderen Frauen und Kinder würden von ihnen versorgt. „Am Wochenende müssen sie sich aber ausschlafen“, lachen die versammelten Klassenkameraden, die Väter von zusammen hundert Kindern.

Lange Zeit wurden Gläubige verhaftet

Durch die Nutzung ihrer weitverzweigten Beziehungen, ist dieser Kreis das soziale Netz ihrer Familien geworden. Alles, was von einer Familie allein nicht zu schaffen ist, wird über den Clan organisiert. Dazu gehören auch die Feste. Zwei Klassenkameraden haben in dieser Woche die Männer ganzer Stadtviertel zum traditionellen Hadisa-Essen eingeladen. Morgens zwischen vier und sechs Uhr wird ein stundenlang gekochtes Fleischkonzentrat aus Rind- und Hammelfleisch gegessen. Die Frau und die Töchter des Kaufmanns, die nicht an der Geburstagsfeier teilnehmen dürfen, reichen durch einen Türspalt große, dampfende Teller mit Reispyramiden, die mit Lammfleisch und gelben Rüben vermischt sind. Der Wodka wird aus Teetassen getrunken. „Dustlik! Freundschaft!“ rufen wir und müssen immer wieder in einem Zug austrinken. Wie denn Alkohol trinken mit dem Koran zu vereinbaren sei, fragen wir die heitere Runde. Der Koran verbiete Alkohol nicht, lautet die trockene Antwort.

Die Namaska-Moschee war fast 73 Jahre geschlossen. Sie steht auf dem Gelände eines Krankenhauses und wurde als Lagerraum benutzt. Seit drei Jahren renoviert eine moslemische Bürgerinitiative die Moschee, die Gläubigen können hier wieder beten. „Beim Morgengebet waren hier 4.000 Moslems“, berichten drei Aktivisten der Initiative. „Sehr lange mußten wir in Privathäusern beten. Unsere Großväter konnten noch den Koran lesen, aber sie hatten Angst, ihr Wissen an die Söhne weiterzugeben. Es gab eine lange Periode, in der aktive Gläubige verhaftet wurden.“ In der Koranschule werden 40 Kinder im Alter von neun bis 13 Jahren unterrichtewt, Mädchen und Jungen strikt getrennt. Die Jungen lernen in der Moschee, die Mädchen haben dort den schlechtesten Raum. Die arabische Schrift ist oberstes Lernziel, damit die Kinder später den Koran lesen können.

Die Frage nach den vielen Lenin- Denkmälern in der Stadt wird belächelt: „Für uns ist ein Lenindenkmal im Hof nichts Schlechtes, wir haben keinen Haß.“ Kapitalismus und Sozialismus seien keine Alternative — die Völker müßten nur nach den heiligen Büchern leben.

Bei aller Toleranz stört sie aber eines doch heftig: die durch die Sowjetmacht veränderte Rolle der Frauen in Usbekistan. Jetzt werden sie laut und bekommen hektische Flecken: „Die Frau muß unter dem Mann stehen, wie es im Koran steht!“

Es ist Timurs 656.Geburtstag, zum ersten Mal darf er nach der Perestroika gefeiert werden. Vor dem Samarkander Theater am Leninplatz parken die weißen Wolgas mit ihren auffälligen Stabfunkantennen. Die Politprominenz aus dem Gebiets- Exekutivkomitee, dem heutigen Hokimijat, gibt sich vor dem Theater ein Stelldichein. Auf den Treppen spielt eine usbekisch-tadschikische Bläser- und Rhythmusgruppe auf Karnai- Blashörnern und Rubab-Trommeln.

Im Theater. Auf der Bühne neben Blumengestecken nur Männer, der Bürgermeister, der oberste Imam, der Rektor der Universität und der Direktor des Theaters. Alle sind um die Rehabilitierung des Eroberers bemüht. Der Rektor der Universität ist nicht auf der Höhe der Zeit. Er zitiert noch Briefe von Karl Marx, die beweisen sollen, daß Timur viel Gutes getan habe. Der Imam verurteilt Timurs Graböffnung von 1941 durch sowjetische Archäologen als Verstoß gegen islamische Gesetze.

Poster aus Mekka ersetzen Lenin-Ikonen

Dann darf doch eine Frau auf die Bühne. Eine usbekische Dichterin, die die islamische „Frauenfront Bibi Chanym“ zur Unterstützung alleinerziehender Mütter gegründet hat. Sie trägt ein Gedicht für Bibi Chanym, die Lieblingsfrau Timurs, vor.

Der Theaterdirektor entschuldigt sich, kein passendes Stück aufführen zu können, aber sie hätten zu spät erfahren, daß Timurs Geburtstag gefeiert werden dürfe. „Nächstes Jahr“, verspricht er dem Publikum, „nächstes Jahr sind wir vorbereitet.“

Zunächst aber müssen wir mit der Eisernen Dame vorlieb nehmen. In dieser Komödie wird ein usbekischer Bauer von seiner Frau verlassen. Er bekommt dafür von einem Erfinder einen weiblichen Roboter auf den Hof, der schließlich unter der Last der Arbeit zusammenbricht. Am Ende des Stücks — als der Theatersaal sich bis auf ein Drittel der Zuschauer gelehrt hat — wird die Message der Komödie auf der Bühne sprachlich zusammengefaßt: „Die usbekischen Frauen arbeiten so hart, daß selbst eine Maschine das nicht aushält.“

Ebenso wie in allen Textilkombinaten Usbekistans arbeiten in der Samarkander Seidenweberei überwiegend Frauen. In riesigen Hallen bedienen sie in Staub und Lärm die Webstühle. Das Stampfen der Maschinen dröhnt noch Stunden später im Kopf.

Die Einfahrt der Seidenweberei ziert eine goldene Lenin-Statue, die schwungvoll in das gelobte Land zeigt und auch hier niemanden stört. Der Betrieb hat mit dem Übergang von der Planwirtschaft zum Kapitalismus zu kämpfen. Die Seidenweberei arbeitet seit 1987 mit einer Selbstfinanzierung und produziert jährlich 9,6 Millionen Meter Stoffe. Nur zehn Prozent vom Gewinn bleiben dem Betrieb, den Rest kassiert die „Assoziation für die Produktion der Leichtindustrie“ in Taschkent. Diese Assoziationen — das hören wir in verschiedenen Fabriken — sind aufgeblähte Bürokratien aus der Zeit der Planwirtschaft, die heute überflüssig sind. Obwohl sie sich jetzt weder um die Materialbeschaffung noch um Verkauf und Invesitionen kümmern, haben sie sich im neuen „Gesetz über die Betriebe in Usbekistan“ als Besitzer der staatlichen Fabriken eintragen lassen. Sie kassieren Gewinne ab und verhindern ein freies Wirtschaften der Betriebe.

Nur die Samarkander Sino-Kühlschrankfabrik konnte sich in eine Aktiengesellschaft umwandeln. Hier steht vor dem Eingang auch kein vergoldeter Lenin, hier hängt im Direktionszimmer kein Lenin-Ölschinken, sondern hier schmückt ein gerahmtes Poster der großen Moschee in Mekka die Wand hinter dem Schreibtisch des Direktors. Der erklärt stolz: „Wir haben die Fabrik gekauft, jetzt gehört die Fabrik der Aktiengesellschaft, die schon Aktien für zehn Millionen Rubel abgesetzt hat.“ Präsident Karimow hat die Sino-Werke schon viermal besucht, zum Beweis zeigt der Direktor einen Stapel Farbfotos. Sie hätten die besten Beziehungen, könnten alle Probleme mit Geld lösen und würden auch viel sparsamer als früher arbeiten. Aus den Materialrückständen der Kühlschrankproduktion würden „Waren des Volksbedarfs“, etwa Teelöffel, Ventilatoren, Eisentüren, Fernseh-Antennen und Heizungsrohre produziert; diese Produkte verkauften sich sehr gut.

Während in anderen Fabriken noch über die Einrichtung von Gebetsräumen nachgedacht wird, mauert die Kühlschrankfabrik schon an einer eigenen Moschee. „Gestern war der oberste Imam hier, um zu kontrollieren, ob das Minarett richtig gebaut wird“, strahlt der Direktor.

Der oberste Imam Mustafakul hat nur wenig Zeit. Das Samarkander Fernsehen wartet vor der Tür mit seinem Team. Der Imam will mit ihnen die renovierungsbedürftigen Moscheen abfilmen.

Für ihn habe sich durch die Perestroika und die Unabhängigkeit Usbekistans nicht viel verändert, da er auch vorher nach dem Koran gelebt habe, sagt er. Trotzdem sei es für die anderen Moslems natürlich ein Fortschritt, daß im Samarkander Gebiet jetzt 100 statt sieben Moscheen stehen und die Ausbildung an Koranschulen wieder erlaubt ist. Früher hätten pro Jahr auch nur 22 Moslems aus der ganzen Sowjetunion nach Mekka pilgern können, im vorigen Jahr waren es 6.000. Er selbst habe gerade einen Wettbewerb im ausdrucksvollen Lesen des Korans für Jugendliche ausgeschrieben. Der erste und der zweite Preis sind eine Pilgerfahrt mit den Eltern nach Mekka.

Bis heute sei sein Verhältnis zu Karimow, der gerade aus Mekka zurückgekehrt ist, in Ordnung. Für die Zukunft brauchten die Moslems aber einen islamischen Staat: „Religion und Staat gehören wie Seele und Körper zusammen. Wenn der Präsident vom Weg abkommt, wenn er die umbenannte kommunistische Partei unterstützt, dann werden 18 Millionen Moslems ihm nicht mehr folgen.“

Religion und Staat sind wie Körper und Seele

Diskussion mit der Samarkander Presse. Journalisten und die Chferedakteure der usbekischen, tadschikischen und russischen Zeitungen sind versammelt. Nur eine Frau ist dabei. Die Blätter erscheinen wegen Papiermangels nur dreimal in der Woche, Auflage: je 30.000.

Wir werden nach unseren Eindrücken gefragt. Und wir sagen, daß uns die Männerdominanz nach sieben Jahrzehnten Sozialismus verwundert. Ein tadschikischer Redakteur erklärt, daß vor fünf Jahren — also vor der Perestroika — alle Gremien zu 50 Prozent mit Frauen besetzt gewesen seien. Daß ihre islamischen Frauen so hart arbeiten müssen, sei dem Mangel an Arbeitskräften, der unzureichenden Mechanisierung und dem geringen Verdienst der Männer zuzuschreiben. Die im Sozialismus praktizierte Doppelbelastung der Frau durch Beruf und Familie habe dazu geführt, daß die Frauen für die Kinder „verloren waren“ und die „moralische Erziehung“ darunter gelitten habe. Ein usbekisches Sprichwort sagt: „Lieber ohne Vater als ohne Mutter“ — Männer also sind für die Kindererziehung nicht geeignet. „Die künftige Aufgabe der einheimischen Frau ist Erzieherin der Kinder in der Familie.“

Abends im usbekischen Fernsehen läuft zur besten Sendezeit ein sonderbarer Videofilm. Durch die Windschutzscheibe eines weißen Mercedes' wird die Fahrt anderer weißer Wagen mit dem Stern gefilmt. Hin und wieder schwenkt die Kamera von der geteerten Piste auf Werbetafeln am Rande, aus dem Autoradio klingt scheppernder Orginalton arabischer Musik. Nach zehn Minuten eintöniger, ungeschnittener Fahrt ein Tunnel. Die Kamera hält auf die Bremsleuchten des Vorderwagens. Am Ende der Tunnelröhre plötzlich grelles Tageslicht, es erscheint die große Moschee in Mekka.

Nach dem ersten Schnitt des Films sehen wir den usbekischen Präsidenten Karimow und seine Delegation in weiße, bettlakenartige Tücher gehüllt, barfuß und mit einer nackten Schulter. Der letzte Erste Sekretär der Kommunistischen Partei Usbekistans nähert sich der heiligen Kába.