Der Mauerbau im sächsischen Borsdorf

Eine 3,20 Meter hohe Schallmauer soll die EinwohnerInnen der sächsischen Gemeinde Borsdorf vor dem Lärm schützen, den die geplante ICE-Verbindung zwischen Leipzig und Dresden befürchten läßt/ Die BürgerInnen sind bereit zum Widerstand  ■ Aus Borsdorf Lutz Stordel

1968, Borsdorf, eine Gemeinde am östlichen Rand von Leipzig. Die siebzehnjährige Helga Liebeskind sitzt auf der verglasten Veranda der elterlichen Villa. Hinter der Gardine peilt sie eine Antenne gen Westen aus, verfolgt im Fernsehen die Studentenunruhen. Ungläubig, distanziert schüttelt sie den Kopf. Die vorbeifahrende Eisenbahn läßt das Bild wackeln, nicht aber das Urteil über die Jugendlichen: „Das sind Spinner.“

24 Jahre später — 1992. Helga Liebeskind sitzt auf der Veranda, Züge fahren vorbei und haben einen Sinneswandel bewirkt. „Früher hatte ich kein Verständnis, wenn Hausbesetzer randalierten oder Startbahngegner ihre Blockaden errichteten. Aber jetzt bin ich selbst zum Widerstand bereit.“ Grund: mitten durch die Gemeinde Borsdorf sollen zwei 3,20 Meter hohe Schallmauern gezogen werden.

Schöner Wohnen mit dem Schutzwall

Die Projektanten sitzen im Bonner Verkehrsministerium, planen eine ICE (Inter-City-Express)-Verbindung zwischen Leipzig und Dresden, die genau durch Borsdorf führen soll. Bei Geschwindigkeiten von 250 Stundenkilometern soll der Schutzwall das Wohnen an der Trasse verschönern. „Wenn es sein muß, setze ich mich gegen diesen Plan selbst auf die Gleise“, sagt Helga Liebeskind.

Seit einhundert Jahren steht ihre Villa hier, ist so alt wie die Kastanien vor dem Haus. Eine Adresse für gehobene Ansprüche, trotz der Bahnverbindung direkt vor der Haustür. ÄrztInnen und AnwältInnen sollen sich hier ansiedeln, um die Steuerkasse des gewerbearmen Ortes zu füllen. Nur, durch das imposante Gründerzeitviertel ziehen sich drei Eisenbahngeleise, die durch Güterverkehr, S-Bahn und Fernzüge stark belastet sind. 80 km/h fuhr die Eisenbahn bis zum Juni diesen Jahres, doch mit dem jetzigen Sommerfahrplan zeigte die Reichsbahn den BorsdorferInnen, wo und wie es in Zukunft langgeht. „120 km/h, der Psychoterror hat begonnen“, sagen die AnwohnerInnen. Wenn der ICE ins Rollen kommt, werden 250 km/h gefahren. Helga Liebeskind: „Die Bonner Planer wollen, daß wir irgendwann weich werden und die Mauer erbitten.“

Doch zur Zeit äußert sich der Unmut in Petitionen und Unterschriftensammlung. Deren loyales Credo: „Wir Borsdorfer sind nicht gegen den Fortschritt, aber wir wollen auch den Charakter unseres Ortes erhalten.“ 2.000 haben den Aufruf schon unterschrieben. 3.500 EinwohnerInnen hat die Gemeinde. Im heruntergekommenen Getränkestützpunkt am Bahnhof wird eine deutlichere Sprache gesprochen. Zwischen sechs Biersorten und Zigarettenqualm wird der Bonner Ideenreichtum nur noch mit Fäkaliensprache beworfen. Da sie seinen Adressaten nicht trifft, entsteht hier jenes seltsame Gemisch aus DDR-Nostalgie und Resignation, das WählerInnen für Diestels Sammlungsbewegung erwärmt: „Wir werden nur verarscht.“ Die Häuser verfallen weiter, die Arbeitslosigkeit treibt zur Abwanderung in die nahegelegene Stadt. „Hier wird doch nischt mehr aufgebaut.“ Ein Großteil der Läden ist geschlossen, die Erwerbslosen schütten sich die Köpfe zu, solange die Stütze eben reicht. Wenn er wiederkäme, der Honecker, mancher würde ihm schon mal zuprosten.

Völlig unverständlich, nicht nachvollziehbar ist für die EinwohnerInnen, daß niemand sie beizeiten in die Pläne des Mauerbaus eingeweiht hatte. Nur durch Zufall wurde das Vorhaben zur ICE-Trasse überhaupt bekannt. Der Bürgermeister von Borsdorf, Peter Pfützner beantragte im August 1991 den Bau eines Gewerbeparks. Neben der Genehmigung zum Bau erhielt er die Mitteilung, daß Flächen bis 30 Meter südlich der bisherigen Eisenbahnlinie nicht verbaut werden dürften. Pfützner stutzte: In diesem Einzugsbereich befindet sich sein eigenes Haus. Der parteilose Politiker zog Erkundungen ein, die alle EinwohnerInnen vor den Kopf stießen: Abrißbirnen, gefällte Bäume, ein vierspuriger Ausbau der Eisenbahnstrecke quer durchs Dorf, der ICE. Und die Konsequenz all dessen: die Borsdorfer Mauer.

In seltener Eintracht setzten sich PolitikerInnen aller Schattierungen zusammen, um auf die Pläne des Verkehrsministeriums zu reagieren: „Natürlich gehört die Eisenbahn zum Ort, schließlich hat sie den Ort schon 1866 zum Verkehrsknotenpunkt gemacht“, sagt der Bürgermeister. Eine Bürgerinitiative wurde ins Leben gerufen und zum Klinkenputzen nach Bonn geschickt. Mit dabei der Borsdorfer CDU-Bundestagsabgeordnete Rolf Rau. Er schlug den Bonnern eine Ortsbesichtigung vor. Und Staatssekretär Wolfgang Gröbl reiste tatsächlich ins Sächsische. „Ein sensibler Herr, der sich sogar die Mühe machte, auf das Viadukt zu steigen. Herr Gröbl zeigte sich verständnisvoll und von der Vorstellung verschreckt, vor unseren Häusern eine Mauer aufsteigen zu sehen“, erinnert sich Helga Liebeskind.

Auf dem Rückflug nach Bonn müssen sich die Eindrücke des Staatssekretärs verflüchtigt haben. Denn aus Bonn kam Post, darin zu lesen das visionäre Fazit des Staatssekretärs, im Schatten der Schallschutzmauer könnten Kinder verkehrsberuhigt spielen, die Lebensqualität des Ortes würde steigen. Der Bürgermeister faßt die Reaktionen als Demonstration verdorbener politischer Moral auf: „Die Interpretation, Kinder sollten an der Lärmschutzwand künftig spielen, dort wo heute unser Fußweg ist — gelegentlich gestört von Müllfahrzeugen, PKWs oder Leichenwagen, kann aus der Perspektive der Betroffenen nur als eiskalter Zynismus gedeutet werden.“

Doch Pfützner muß seine Emotionen zügeln, sucht als Politiker einen Ausweg zusammen mit seiner Gemeinde. Vorschläge kamen: Bau eines Tunnels unter dem Dorf — aus Kostengründen abgelehnt, deutliches Abbremsen der Züge — aus Kostengründen abgelehnt, Neubau einer ICE-Strecke — aus Kostengründen abgelehnt. Die Verweise auf die Finanzlage der Reichsbahn akzeptierten die engagierten BürgerInnen nicht, sie forderten konkrete Untersuchungen und Alternativen. Der Ausbau der Strecke auf vier Gleise scheint inzwischen gescheitert zu sein: „Dafür würde Grund und Boden der Gemeinde benötigt“, erklärt Lorenz Uhlmann, Sprecher der Bürgerinitiative, „aber wir lassen uns doch nicht ein zweites Mal enteignen.“

Die Unterwürfigkeit der Ossis ausnutzen

Kaum eineR kennt hier gesetzliche Einspruchsmöglichkeiten, und falls der Protest nicht fruchtet, könnte er in Resignation umschlagen. „Wir sind doch nur Ossis, dazu noch Sachsen und auch nur 3.500“, lallt es aus der Bierhalle. Das Dorfgeflüster läßt vernehmen, Bonns Schreibtischtäter wollten nur die anerzogene Machtunterwürfigkeit der Ossis ausnutzen. Die Ortspresse gibt sich noch kämpferisch. „Wenn der Hochgeschwindigkeitsfimmel Milliarden wert ist, dann ist nicht einzusehen, wieso eine Lösung, die etlichen Generationen das Projekt verträglich machen könnte, unbezahlbar sein soll“, schreibt das Blättchen 'Vor Ort‘.

Sollten die Bonner kein Einsehen haben, will Borsdorf auf die Barrikaden gehen. Bürgermeister Pfützner: „Dann kann ich für nichts mehr garantieren.“ Wird der Ausbau der Strecke durchgesetzt, kostet er 2,5 Milliarden D-Mark. Ein Neubau, entlang der bestehenden Autobahn Leipzig-Dresden, wäre sinnvoller, aber auch teurer bei 3,1 Milliarden D-Mark. Wie auch immer das Projekt umgesetzt wird, es trägt den Namen „Verkehrsprojekt Deutsche Einheit Nr.9“.