Und dann kam Fanny

Arabische Helligkeit und normannische Tristesse: Die „Französischen Filmtage“ in Tübingen  ■ Von Rudi Knoche

Früher waren die „Französischen Filmtage“ ein schnuckeliges kleines Festival, bei dem Außenseiter wie der Wüstenfilmer Raymond Depardon oder der Anti-Nazi-Rechercheur Thomas Harlan nächtens in verrauchten Kneipen saßen und schwäbischen Studenten das Wesen der Filmkunst erklärten. Bisweilen entdeckte man in Deutschland völlig unbekannte Cineasten wie den Regisseur Jean- Pierre Mocky (A Mort l'Arbitre — Tod dem Schiedsrichter) oder die Schauspielerin Julie Delpy, die Schlöndorff dann für Homo Faber engagierte; man konnte wunderbar streiten und die Filme französischer Nachwuchsfilmer vergleichen — die großen (Film-) Geschäfte wurden anderswo gemacht, in Tübingen interessierte man sich mehr für die Kunst.

Natürlich war das irgendwie provinziell, aber angenehm. Selige Zeiten! Mittlerweile nämlich ist man auch am Neckarstrand ins Gigantomane abgedriftet (je mehr Filme, desto besser), beim obligaten Eröffnungsempfang hält sich die schwäbische Halb- und Künstlerwelt am Sektglas fest und trägt das kleine Schwarze mit tiefem Dekolleté, die Herren diverser Filmfirmen sind ganz selbstverständlich anwesend, und weil das Festival noch immer mit minimalen Zuschüssen und ausschließlich von sogenannten freiwilligen Helfern organisiert wird, gibt es diesmal einen etwas lächerlichen „Wettbewerb“ um den „Gauloises Blondes Filmförderpreis“, der ganz ungeniert den kommerziellen Interessen des Sponsors dient und um den sich ganze sechs Filme beworben haben. Egal, wer gewinnt: der Titel ist nur Schall und Rauch.

„Französische Filmtage“ ist sowieso ein bißchen Etikettenschwindel: die wichtigsten Filme des Festivals kommen seit Jahren aus den afrikanischen und arabischen Ländern, bisweilen auch aus Kanada. Und die Regisseure aus diesen ehemaligen Kolonien definieren ihre Identität in der Abgrenzung zum Mutterland — am deutlichsten in diesem Jahr Bezness von Nouri Bouzid, ein Film über tunesische Jungmänner, die den Lebensunterhalt für ihre Familien durch erotische Dienstleistungen für europäische Touristen männlichen und weiblichen Geschlechts verdienen.

Bezness ist die arabische Verballhornung von „Business“. Nouri Bouzid, der sechs Jahre seines Lebens politischer Aktivitäten wegen im Knast gesessen hat, zeigt die Zerrissenheit des arabischen Machos zwischen Geschäft, sexuellem Größenwahn und traditioneller muslimischer Moral. Der Film operiert mit lichtdurchfluteten Bildern aus dem Sonnenland, wie sie eher der europäischen, etwa von August Macke beförderten Illusion der nordafrikanischen Staaten entsprechen. Bouzids Dramaturgie ist ein wenig flach und wiederholungsträchtig, in nervender Symbolik läßt er immer wieder einen französischen Fotoreporter als allgegenwärtigen Voyeur sein fettes Objektiv (achja) in die Handlung halten — und trotzdem ist die Umkehrung der Touristenperspektive, das Erzählen aus der Sicht des sich prostituierenden Arabers Roufa, für uns Europäer bedrückend. Ein arabischer Bodybuilder- Großkotz ist nicht besser als seine deutsche Entsprechung — nur anders. Er steht halt auf der Verliererseite. Von den europäischen Kunden sieht man nur Klischees: sich räkelnde weißhäutige Miezen oder dandyhafte leptosome Schwule.

Weitaus alltagsorientierter und witziger erzählt Ferid BoughedirsHalfouine von den Pubertätswirren eines tunesischen Kleinstadtjungen, der von Mutter und Tante noch für ein Kind gehalten wird und im arabischen Dampfbad die Anatomie des weiblichen Körpers erforscht. Tagsüber sitzt er beim Schuster, kehrt den Laden des Friseurs aus und lernt dabei Kurtisanen und spitzelnde Geheimpolizisten kennen. Zentrum des Films ist ein Beschneidungsfest: während alle tanzen und trinken, empfindet der Junge Noura den Schmerz seines beschnittenen kleinen Bruders fast körperlich mit.

Solch offensive, in eine humorige Begleithandlung gepackte Traditionskritik ist neu im tunesischen Film. Ziemlich angepaßt dagegen das „Cinema Beur“, das Kino der schon in Frankreich geborenen Araber der zweiten Generation: komödiantisch und ganz offensichtlich um gute Unterhaltung bemüht. Baton Rouge zum Beispiel verfolgt die Irrfahrt dreier Pariser Banlieue-Jugendlicher durch Amerika auf der Suche nach dem Blues. I got to fly today on to Baton Rouge, ein nettes, aber harmloses Road-Movie mit Musikdramaturgie und vielen schönen Fastfoodbildchen.

Aus den neuen französischen Streifen ragt mit weitem Abstand Nord heraus, der erste Spielfilm des erst 24jährigen Xavier Beauvois. Le Havre: Das Dröhnen der Fähren nach England liegt über der Stadt. Bertrand ist durchs Abi gefallen. Zu Hause, im Eigenheim seiner Eltern, tobt der Kleinbürgerkrieg: der bullige, alkoholabhängige Vater (Bernard Verlay) terrorisiert die schwache Mutter (Bulle Ogier), die sich wiederum resigniert um die behinderte Tochter kümmert. Brutalität und Traurigkeit — Bernard schwänzt die Schule und fährt lieber mit den Fischern aufs Meer. Er sucht dort nicht die Weite, sondern einen festen Tagesablauf, Arbeit, Alltag, eine Form für sein Leben.

Obgleich in Farbe gedreht, liegt immer ein sozialer Grauschleier über den Bildern, mit denen Beauvoir gleichsam achselzuckend von der Sprachlosigkeit der französischen Mittelklasse berichtet. Straßen, Plätze, Cafés, das Meer; geduckte Häuser, verschlossene Menschen. Xaviers Einsamkeit vor seinen Pornokassetten. Zwischen den Wutanfällen des Vaters die Stummheit der Mutter. Ein kurzer Gespächsversuch in der Entzugsklinik. Absurde Familienabende vor dem Fernseher. Als der Vater sich endlich erschießt, beschleicht den Zuschauer ein peinliches, ein beschämendes Gefühl: er ist erleichtert.

Ansonsten: eine wunderbare Retrospektive auf das Gesamtwerk von Alain Resnais — endlich konnte man Letztes Jahr in Marienbad im Kino statt im Fernsehen angucken, Nouveau Roman als Bildersprache. Und dann kam Fanny Ardant, die in Resnais L'Amour à Mort ja auch mitspielt und der eine „Hommage“ gewidmet war, kam also diese Fanny Ardant leibhaftig aufs Festival, schaute uns aus dunklen Augen an, klimperte mit den Ohrringen und sprach charmante Worte, was von den Kollegen der kamera- und mikrofonhaltenden Anstalten mit großer Aufmerksamkeit registriert wurde und den Filmtagen eine sogenannte Medienöffentlichkeit bescherte. Für manche war das das Hauptereignis, böse journalistische Zungen sprachen vom „Fetisch Fanny Festival“ und gingen dann aber wieder folgsam ins Kino — denn auch hartgesottene Kritiker sind nach einer Woche Filmegucken so kaputt, daß sie nur eines möchten: in dunklen Sälen liegen und schlafen, und nie wieder eine Zeile über Kino schreiben.