„Das Lumpenproletariat wächst“

■ Nach einem Jahr Krieg in Jugoslawien hält auch die Demokratische Opposition Belgrads einen schnellen Frieden für utopisch

Nebosa Popov, Soziologe aus Belgrad, ist einer der profiliertesten Vertreter der Demokratischen Opposition Belgrads und Herausgeber der Zeitung 'Republika‘.

taz: Ein Jahr dauert nun schon der Krieg. Wie ist der denn Ihrer Meinung nach überhaupt noch zu beenden?

Nebosa Popov: Die erste Idee, die wir aus dem demokratischen Lager hatten, ist gescheitert. Wir hatten im Juli vorigen Jahres einen Runden Tisch zwischen der Opposition und der Regierung Jugoslawiens vorbereitet, um alle strittigen Themen auszudiskutieren, aber zu diesen Gesprächen ist es nicht gekommen. Wir dachten, daß die strittigen Territorien unter internationale Friedensverwaltung gestellt werden sollten. Ab und zu kamen die Vertreter der Bundesregierung dazu, Vertreter von einigen Parteien Serbiens und sehr wenige aus Bosnien-Herzegowina sowie aus Slowenien und Kroatien. Dies war für mich ein Zeichen, daß die politischen Akteure nicht zu einem Kompromiß bereit waren, da sie zu starke Loyalitäten gegenüber ihren nationalen Regimen hatten — und daß sie erwarteten, unsere Probleme über Europa und die Vereinten Nationen zu lösen. Diejenigen, die an den Debatten teilgenommen haben, beispielsweise die Freunde aus Sarajevo, glaubten, daß ein Krieg in Bosnien eine Katastrophe für alle und für sie selbst werden würde, deshalb also unmöglich wäre. Während wir darüber sprachen und Friedenskonferenzen und Konzerte organisierten, haben sich andere auf den Krieg vorbereitet.

Heute sehe ich keine Möglicheiten für einen schnellen Frieden im ehemaligen Jugoaslawien, die bewaffneten Auseinandersetzungen gehen weiter. Die Friedensgruppen sind untergegangen und deshalb beachtet man sie auch im Ausland kaum. Die Tragödie liegt darin, daß die internationale öffentliche Meinung uns nicht unterscheiden will von denjenigen, die den Krieg befördern.

Wenn es in Ex-Jugoslawien keine Kraft gibt, die Kämpfe zu beenden, ist das Ausland gefordert. Ist eine militärische Intervention nicht mehr ausgeschlossen?

Ich denke, daß die Intervention schon im Gange ist, daß alle Gruppen, die im Kampfgeschehen aktiv sind, Waffen von außen bekommen. Am wichtigsten ist, daß die Akteure des Kampfes immer weniger kontrolliert sind. Deshalb ist es schwer, den Kampf zu begrenzen und in seinem Fokus zu intervenieren. Meiner Meinung nach ist die Voraussetzung für die Beendigung des Krieges die Auswechslung des Regimes in Serbien und Kroatien. Was Serbien betrifft, liegt der Schlüssel in Belgrad.

Was mich dabei optimistisch macht, ist, daß sich jetzt nicht nur kleine Gruppen gegen das Regime stellen, sondern auch die Nationalen Parteien, die über größere Macht verfügen. Wenn diese Alternative nicht verwirklicht wird, könnten wir in einen furchtbaren Bürgerkrieg in Serbien schliddern. Auf der einen Seite stehen die Vertreter der alten Ideologie, die Vertreter der Wirtschaft und Polizei, des Militärs. Diese Gruppe hat alle elektronischen Medien in ihren Händen. Das ist wichtig, weil es viele Analphabeten und Halbanalphabeten gibt. Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die die alten Macht beseitigen wollen. Dazu gehören jetzt auch bestimmte Strömungen der Nationalisten. Gefährlich sind Teile der verfallenden Armee, verschiedene Gruppen, die außerhalb jeglicher Kontrolle stehen, und Leute, die einfach über Waffenarsenale verfügen. Dazu kommt das Lumpenproletariat, dessen Zahl von Tag zu Tag wächst — und das jeden Tag aggressiver wird. Außerdem gibt es Flüchtlinge, die jede Hoffnung verloren haben. Innerhalb der Armee bestehen Konflikte, die sich an der Geschichte orientieren; während des Zweiten Weltkrieges gab es einen Kampf zwischen den regimetreuen und oppositionellen Tschetniks.

Die Demokratische Opposition ist näher zusammengerückt, auch die serbischen, nationalistisch denkenden Intellektuellen haben gegen Milosevic Stellung bezogen. Wie ist es möglich, da eine gemeinsame Perspektive zu finden?

Es gibt einen Unterschied zwischen nationalen Parteien und bürgerlichen Parteien. Die nationalen Parteien glauben an ein Wunder, das König heißt: Wenn der kommt, könnte der Krieg beendet und so auch Milosevic gestürzt werden. Das erinnert mich an eine magische Formel. Ich hoffe, daß wir ernste Gespräche führen werden, wie man ein autoritäres Regime stürzen und gleichzeitig demokratische Positionen aufrechterhalten kann. Wenn dies nicht gelingt, dann wird unsere gemeinsame Strategie gegen Milosevic dazu führen, daß die Bürger, die an uns glauben, resignieren.

Wieso ist die Idee mit dem König schlecht? Nur der König kann einen Keil in die Autorität des Staatsgefüges treiben, weil er per se über Autorität verfügt. Die politischen Auseinandersetzungen bewegen sich bisher ja nur im ideologischen Bereich.

Wenn man sich anschaut, wer die Schlüssselpositionen in Kroatien, Slowenien, Kosovo und Serbien hat, dann sieht man, daß sie durch Literaten und Militärs besetzt sind. Die Macht der autoritären Persönlichkeiten wie Milosevic und Rugova begründen sich durch Ideologie. Diese Konstellation blockiert damit die rationale Strukturierung der Gesellschaft auf Interessen hin. Was die parlamentarische Monarchie betrifft, bin nicht deren Feind, aber ich betrachte den König als jemanden, dessen Funktion genau zu definieren ist.

Augenblicklich besteht die Gefahr des Totalitarismus in Form des Nationalismus, die kriegerische Auseinandersetzung wird begleitet durch eine kriminelle Struktur der Waffenbeschaffung; diese Mafia ist mächtig geworden. Wir als Republikaner reden deshalb über bürgerliche Rechte und Freiheiten. Und diejenigen, die auf den König insistieren, vergessen oftmals alle Errungenschaften des laizistischen Staates und der bürgerlichen Gesellschaft. Diese Strömung tendiert zu einer korporativistischen Lösung, die für uns nicht möglich ist.

Die Nationalisten fühlen sich verfolgt von allen Mächten der Welt: vom Vatikan, Genscher, von den Italiern, von Protestanten, und deshalb sagen sie, unsere Rettung liegt in der Schaffung eines orthodoxen Imperiums, um uns von der furchtbaren westlichen Kultur abzugrenzen. Diese Betrachtungsweise ist in ihrem Wesen antidemokratisch, antikommunistisch, antihumanistisch und antiindividualistsch.

Bei einem Kongreß in Moskau — unterschätzen Sie dies nicht — wurde die Idee des Panslawismus neu aufgewärmt, und deshalb ist die Frage jetzt auch im Westen: Hat der Westen genug Flexibilität und Ideen, eine Alternative zu finden, die die Probleme der Peripherie umfassen?

Wie kann denn vom Westen aus eine Perspektive geboten werden? Was würden Sie sich wünschen?

Zuerst mit der Anstrengung, freien Informationsfluß und freie Medien hier zu schaffen, dann zur Erneuerung der Kommunikation zwischen Zagreb und Belgrad beizutragen. Ich habe mich gewundert, daß bei den Verhandlungen in Den Haag oder Brüssel nicht auf einem Korridor insistiert wurde, so daß der Verkehr zwischen Zagreb und Belgrad wieder funktionieren kann.

Und dann wünsche ich mir Unterstützung aller Gruppen, die politisch gezeigt haben, daß sie Träger der Humanität sind. Außerdem fordere ich die Unterbindung aller Formen der Mafia und des Waffenhandels. Es ist wichtig, daß Europa weiß, daß Belgrad oder Zagreb nicht ausschließlich nationalistisch sind, sondern daß da immer verschiedene Kräfte vorhanden sind — nicht alle Serben und Kroaten sind Kriegsverbrecher. Die Anfänge der bürgerlichen Gesellschaft sind vorhanden in Serbien und in Kroatien, sie stecken aber immer noch in den Kinderschuhen. Ohne die Unterstützung der demokratischen Öffentlichkeit Europas können wir aus dieser Katastrophe aber nicht herauskommen.

Wenn jetzt ein Teil der nationalistischen Intelligenzija gegen Milosevic auftritt und sich mit den Demokraten verbündet, besteht doch auch eine Gefahr für den Demokratiebegriff.

Die Nationalisten sind zerstritten. Innerhalb des Regimes gibt es mehrere Fraktionen, aber auch außerhalb. Im Nationalsozialismus gab es auch Streit zwischen SS und SA. Das Motiv der Gruppen im Regime war bisher, das Monopol über die Macht zu erhalten. Das Motiv von Arkan und ähnlichen rechtsradikalen Gruppen, die nicht unmittelbar mit dem Regime verbunden sind, ist die Plünderung. Bei Arkan sind es meistens sehr junge Leute, Fußballfans, die jetzt für ihn kämpfen.

Wenn aber das Lumpenproletariat definiert, was Serbien ist, werden die nationalen Eliten wachgerufen. Die jetzt Regierenden besitzen einen starken Apparat der Macht, etwa das Militär: mit einem solchen Apparat der Macht kann sich keine Opposition abfinden. Selbst eine nationalistische Partei wie die von Vuk Draskovic, der ein Partner für Dialog und Kooperation auch für uns ist, kann das nicht, und so hoffen wir, daß wir diese Spielart des Nationalismus kontrollieren können. Jetzt haben wir ein gemeinsames Interesse, dieses Regime zu stürzen. Wir wollen aber auch die Voraussetzungen für eine demokratische Gesellschaft schaffen.

Gibt es eine Möglichkeit, über die Veränderung der Grenzen zu einem Waffenstillstand zu kommen?

Ja, aber zuerst muß aufgehört werden zu kämpfen, und dann kann man darüber sprechen. Da denke ich an die internen Grenzen, die Jugoslawien ausgemacht haben, aber nicht an die externen Grenzen. Wenn man die externen Grenzen in Frage stellt, dann stellt man zugleich die Frage nach Ungarn und Rumänien, Österreich und Italien, auch nach den südlichen Ländern — und das kann ein gefährlicher Zündstoff für ganz Europa sein.

Unser Unglück liegt darin, daß die universellen Prinzipien territorialisiert werden. Wenn Serben sagen „Nie mehr wollen wir mit Kroaten leben!“ wenn Kroaten und Slowenen sagen, Jugoslawien dürfe nicht erwähnt werden, und sie alle denken, Befreiungskriege führen zu müssen, dann ist immer der andere Schuld. Das ist eine ganz banale Geschichte. In Bosnien geht das territoriale Prinzip durch die Wohnungen. Drei bis vier Millionen Menschen sind aus gemischten Ehen. Wie kann man die territorial auseinanderreißen? Die Idee des nationalen Staates wird verabsolutiert, und das führt zur Überprüfung der Rassensauberkeit, und das nicht nur aufgrund des ideologischen Wahns. Es wächst auch die Armut. So versuchen die einen, das Eigentum der anderen an sich zu reißen. Und das ist jetzt gerade im Gange.