Moldovaner hoffen auf neuen Stalin

In Moldova glauben viele, daß nur ein neuer „starker Mann“ das Wirtschaftschaos beseitigen kann  ■ Aus Chisinau Keno Verseck

„Wir brauchen einen neuen Stalin, der wieder Ordnung schafft“, sagt ein älterer Russe in der nordmoldovanischen Kleinstadt Balti auf die Frage, was er vom wirtschaftlichen Zustand der kleinen ehemaligen Sowjetrepublik halte. Die umstehenden Jugendlichen pflichten ihm stumm bei. Das Argument, daß es unter Stalin in den zwanziger und dreißiger Jahren Millionen Hungertote gab, läßt ihn ärgerlich werden. „Was wissen Sie schon“, faucht er wütend, „meine paar hundert Rubel reichen ja nicht einmal, um mir vernünftiges Essen zu kaufen. Die Löhne werden seit Monaten sowieso nicht ausgezahlt. Das alles hat uns Gorbatschow mit seiner Perestroika eingebrockt.“

Wenn etwas die Mehrheit der rumänischsprachigen Moldovaner hindert, wieder nach Stalin zu rufen, dann vielleicht allein die Tatsache, daß er sie nicht nur politisch, sondern auch als Nationalität unterdrückte. Aber sonst ist die Stimmung bei ihnen nicht anders. Seit der einstige „Obstgarten der Sowjetunion“ kurz nach dem Moskauer Putsch vom vergangenen August unabhängig wurde, hat sich für die Bevölkerung wenig geändert. Wirkliche Freiheit und Brot — davon können die Moldovaner bis jetzt nur träumen. Vor allem wirtschaftlich geht es rasant bergab. „Der allgemeine Zustand der Ökonomie ist der aller ehemaligen Sowjetrepubliken“, sagt Gheorghe Efros, Vizepremier und Minister für Wirtschaftsreformen in der Hauptstadt Chisinau (zu Sowjet-Zeiten Kischinew). „In allen Zweigen gibt es einen Produktionsrückgang.“ Besonders drastisch sieht es in der Landwirtschaft aus, dem Hauptproduktionsbereich des Viereinhalb- Millionen-Landes. Um mehr als ein Drittel ging allein die Erzeugung von Lebensmitteln im ersten Quartal 1992 zurück (siehe Kasten). Trotz einer allgemeinen Preisliberalisierung und Teuerung bei den wenigen noch subventionierten Grundnahrungsmitteln kam es am Jahresbeginn zu Versorgungsschwierigkeiten. Auf den Märkten ist das Angebot privater Händler zwar wieder größer geworden. Doch angesichts der niedrigen Löhne können viele die astronomischen Preise nicht bezahlen. In desolatem Zustand befindet sich auch die Energieversorgung. Anfang April bot das selbst von Energieproblemen gebeutelte Rumänien dem „kleinen Bruder“ im Nordosten an, im Notfall Strom zu liefern.

Schuld an der ökonomischen Katastrophe ist nach Meinung von Wirtschaftsminister Constantin Tampiza in erster Linie der Transnistrien- Konflikt. In der abtrünnigen Republik befinden sich 40 Prozent der moldovanischen Industrie, die für die Wirtschaft am rechten Ufer des Dnjestr-Flusses praktisch nicht mehr zur Verfügung stehen. So könnte Moldova schneller als erwartet auf die Wiedervereinigung mit Rumänien angewiesen sein. Ohnehin geben Experten dem Land auf Dauer kaum Chancen, als unabhängiger Staat wirtschaftlich zu überleben. Die Industrie ist bis auf wenige Ausnahmen veraltet, Moldova besitzt kaum Rohstoffe, und in der Landwirtschaft wird wenig effizient produziert.

Zahlen über Kriegs- und Folgeschäden liegen nicht vor, Tampiza schätzt sie allerdings auf mehrere hundert Milliarden Rubel (offizieller Kurs: 1Dollar = 90Rubel). Gheorghe Efros nennt den Zerfall der Sowjetunion als weiteren Faktor, der zur ökonomischen Talfahrt beiträgt. Einerseits sei die Wirtschaft unter den verschiedenen Republiken so verflochten, daß man sie jetzt erst einmal entflechten müsse. Andererseits hätten einzelne Republiken Monopole auf bestimmte Waren, würden aber nicht mehr liefern.

Größtes konkretes Problem sehen sowohl Efros als auch Tampiza in der Abhängigkeit Moldovas von der russischen Währung. Die Zentralbank in Moskau drucke rücksichtslos immer mehr Geld, heize die Inflation an und mache so den moldovanischen Markt kaputt. Die Regierung will deshalb so schnell wie möglich eine eigene Währung, den moldovanischen Leu, einführen. Bei diesem Vorhaben wird Rumänien, das sonst aufgrund eigener ökonomischer Probleme kaum in der Lage ist, Moldova aus der Misere zu ziehen, technische Hilfe leisten.

Doch abgesehen von äußeren Einflüssen ist die Regierung zu einem Gutteil selbst verantwortlich für den ökonomischen Niedergang. Einzig nennenswerte Aktion blieb bis jetzt die Liberalisierung der meisten Preise. Da ökonomische Voraussetzungen hierfür nahezu völlig fehlen, traf dieser Schritt lediglich die Bevölkerung und läßt Spekulanten auch weiterhin Tür und Tor offen. Bereits letztes Jahr wurden zwar grundlegende ökonomische Gesetze, so ein Privatisierungsgesetz, verabschiedet; Initiativen zu ihrer Umsetzung legte die Regierung aber nicht vor. Erst Mitte Mai, zwei Jahre nach Amtsantritt, präsentierte sie erstmals ein ökonomisches Reformprogramm. Doch auch das enthält neben allgemeinen Absichtserklärungen nur einen einzigen konkreten Teil, ein Privatisierungskonzept. Ob das jedoch vom Parlament angenommen wird, ist fraglich, denn die Privatisierungskommission des Parlamentes hält ein eigenes Konzept bereit. Folge: bei der Transformation des staatlichen Eigentums hat sich kaum etwas getan.

So scheinen Kritiker recht zu behalten, die meinen, die Regierung interessiere sich nicht für Wirtschaftsangelegenheiten und schiebe den Transnistrien-Konflikt vor, um die eigene Unfähigkeit zu verdecken. Auch das Wort „Mafia“ fällt immer wieder. Visarion Cesuev, Leiter der parlamentarischen Privatisierungskommission, erzählt, man habe des öfteren gegen Fälle illegaler Privatisierung protestiert — vergeblich. Auf die Frage, ob ehemalige KP- Funktionäre im Verein mit der lokalen Mafia das Land unter sich aufteilten, antwortet Gheorghe Efros: „Es gibt eine Million Möglichkeiten, sich Eigentum zu beschaffen. Ich glaube, es ist nicht sinnvoll, wenn Sie darüber schreiben.“