Hoffnung für Lebenslängliche

■ Bundesverfassungsgericht verbessert bei lebenslang Verurteilten die Chance auf eine vorzeitige Haftentlassung/ Praxis nicht rechtsstaatlich/ „Schwere der Schuld“ künftig auch Revisionsgrund

Berlin (taz/dpa) — Das Bundesverfassungsgericht hat die Chancen für Straftäter, die zu einer lebenslangen Haft verurteilt wurden, erheblich verbessert, nach der Verbüßung der gesetzlichen Mindeststrafe von 15 Jahren vorzeitig aus der Haft entlassen zu werden. Nach einer gestern in Karlsruhe veröffentlichten Entscheidung verwarf der Zweite Senat die bislang gängige Praxis, wonach die Strafvollstreckungskammern nach dem Ablauf der Mindeststrafe allein über die „Schwere der Schuld“ und damit über die Frage einer möglichen Haftentlassung entscheiden.

Wie die individuelle Schuld des einzelnen Täters zu bewerten ist, muß nach Karlsruher Auffassung von den Gerichten entschieden werden, die die jeweils zur Last gelegten Taten aburteilen. Dies verlange das Grundrecht auf ein faires rechtsstaatliches Verfahren. Die Feststellungen der Gerichte über die Schwere der Schuld werden damit künftig Bestandteil der Urteile. Damit unterliegen sie künftig auch einer möglichen Revision des Urteilsspruchs.

Nach den Bestimmungen des Strafgesetzbuches (Paragraph 57a) kann der Strafrest bei lebenslänglich Verurteilten nach 15 Jahren zur Bewährung ausgesetzt werden, wenn einerseits „verantwortet werden kann zu erproben, ob der Verurteilte außerhalb des Stafvollzuges keine Straftaten mehr begehen wird“ und andererseits „nicht die besondere Schwere der Schuld des Verurteilten die weitere Vollstreckung gebietet“. In der Praxis führte dies dazu, daß der Gefangene erst nach 15 Jahren Haft erfuhr, ob eine vorzeitige Haftentlassung überhaupt in Frage kam. Nach der Karlsruher Entscheidung müssen die Gerichte bei der Ablehnung einer Strafaussetzung erstmals auch festlegen, wie lange die Haft noch weiter vollstreckt werden muß. Bisher wisse der Verurteilte nicht, ob er nur noch kurze Zeit oder noch viele Jahre einsitzen müsse. Diese Ungewißheit behindere auch die Gefängnisse, ihrer „verfassungsmäßigen Aufgabe“ nachzukommen, den Täter in die Gesellschaft wiedereinzugliedern.

Darüber hinaus verpflichteten die Verfassungsrichter die Vollstreckungsgerichte, rechtzeitig vor Ablauf der Mindeststrafe über eine Strafaussetzung zu entscheiden. Dies sei erforderlich, um den Knästen die Möglichkeit zu geben, rechtzeitig alle Entscheidungen so treffen zu können, „daß die bedingte Entlassung nicht verzögert wird“.

Da die Praxis den rechtsstaatlichen Anforderungen nicht genüge, schuf das Bundesverfassungsgericht für die „Altfälle“ eine Übergangsregelung. Danach dürfen die Vollstreckungsgerichte zu Lasten des Verurteilten nur das dem Urteil zugrundeliegende Tatgeschehen und die dazu festgestellten Umstände der Tat berücksichtigen.

Mit seiner Entscheidung gab der Zweite Senat den Verfassungsbeschwerden zweier wegen Mordes verurteilter Straftäter statt. Nach 15 Jahren Haft war beiden eine vorzeitige Entlassung mit Argumenten versagt worden, die über die Feststellungen des ursprünglichen Urteils hinausgingen. (Az.: 2 BvR 1041/88 und 2 BvR 78/89). wg