Gefahr für Tariflöhne im Osten

■ Firmen, die „in Not geraten“, sollen künftig das Recht haben, im Osten unter Tarif zu zahlen

Bonn (afp) — Unternehmen in den neuen Bundesländern sollen nach Abschluß entsprechender Betriebsvereinbarungen niedrigere Löhne als in den Tarifverträgen vereinbart zahlen können. Die Regelung tritt immer dann in Kraft, wenn Firmen in Not geraten sind. Dies beschloß das Bundeskabinett gestern bei Beratungen über Deregulierungsmaßnahmen zur Stärkung des Wettbewerbs.

Bundesarbeitsminister Norbert Blüm (CDU) sei beauftragt worden, die notwendige Gesetzesänderung bis Anfang nächsten Jahres vorzubereiten, sagte Bundeswirtschaftsminister Jürgen Möllemann (FDP). Er bezeichnete die Möglichkeit zur Abweichung von den Tarifverträgen in den neuen Ländern, die auf fünf Jahre befristet werden soll, als „außerordentlich wichtig“. „Ich sehe mit der gegenwärtigen starren Regelung die Gefahr des Zusammenbruchs vieler Betriebe, die bei solidarischem Handeln von Arbeitgebern und Belegschaft durchaus überleben könnten“, sagte der Minister.

Die SPD-Fraktion sowie der Deutsche Journalisten-Verband (DJV) und die IG Medien wiesen dagegen die Pläne nachdrücklich zurück. Der wirtschaftspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Wolfgang Roth, warf der Koalition vor, den „Ausstieg aus den Grundlagen unserer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnung“ zu proben. Branchentarifverträge verlören ihren Wert, wenn sie nachträglich per Gesetz außer Kraft gesetzt werden könnten. „Dies ist ein Schlag gegen die erfolgreiche Tarifpolitik in Deutschland“, erklärte Roth.

Als einen „weiteren Versuch, die Tarifautonomie auszuhöhlen“ bezeichnete die IG Medien in Stuttgart die neue Regierungsinitiative. Die Gewerkschaft lehne einen Eingriff in das Betriebsverfassungsgesetz kompromißlos ab. Der DJV warf der Bundesregierung vor, mit „immer neuen abenteuerlichen Überlegungen zum Arbeits- und Sozialrecht den Boden für soziale Rückschritte“ zu bereiten. Der Deregulierungsvorschlag sei nichts anderes als „eine Hintertür zu tariffreien Räumen“. Eine „gesetzlich erlaubte Tarifumgehung“ spreche jeder Vorstellung von sozialer Wirtschaftsordnung Hohn, erklärte die Journalistengewerkschaft in Bonn.

Die CDU/CSU-Fraktion sprach dagegen von Maßnahmen zur „Lösung der Beschäftigungsprobleme“ und einem „wichtigen wirtschaftspolitischen Signal“. Ziel der „breit angelegten Deregulierungsoffensive sei es, den Strukturwandel voranzubringen und den dynamischen Wettbewerb zu stärken.

Auch die Arbeitgeber sind begeistert. Die Regierungspläne seien ein „Vorschlag, der in die richtige Richtung weist“. Hauptgeschäftsführer der Arbeitgeberverbände Fritz- Heinz Himmelreich verwies auf die „Sondersituation der neuen Bundesländern“, die zu neuen Wegen in der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik geführt habe. Die Tarifpolitik dürfe sich „unkonventionellen Instrumenten“ nicht verschließen.