Rückblicke in eine exotische Heimat

■ »Das alltägliche Deutschland«: eine Foto-Ausstellung des Dahlemer Museums für Volkskunde

Nicht jedes Foto, das ins Museum gelangt, muß gleich ein Kunstwerk sein. Denn was auch das ambitionsloseste Knipserbild mit den Fotografien der großen Meister der künstlerischen Fotografie gemeinsam hat, ist sein dokumentarischer Charakter. Aus diesem Grunde besitzt das aus den vordem getrennt arbeitenden Institutionen im Pergamonmuseum und in Dahlem vereinigte Museum für Volkskunde eine große Sammlung von Fotografien als Quellenmaterial. Jetzt wird ein repräsentativer Querschnitt von etwa 500 Beispielen aus den rund 80.000 Aufnahmen des Bestandes gezeigt. Es handelt sich einerseits um jene ganz alltäglichen Fotos, wie sie jeder und jede von uns im Schuhkarton aufbewahrt oder ins Album geklebt hat, zum Teil aber auch um die gezielte Dokumentation über Alltag, Brauchtum und Volkskunde der Deutschen. Die Anfänge der Sammlung reichen zurück bis zu dem 1889 gegründeten Museum für deutsche Volkstrachten und Erzeugnisse des Hausgewerbes, eines Vorläufers des Volkskundemuseums, mitbegründet durch den Pathologen und Anthropologen Rudolf Virchow.

Virchow fotografierte damals auch selbst. Eines der schönsten Fotos stammt aus seiner Sammlung. Es ist ein schon beinahe surrealistisch anmutendes Bild: ein windschiefes Holzhaus mit zerzaustem Reetdach steht da inmitten einer Sandwüste, als befände man sich in der Sahara. Ein aufgehängtes Fischernetz aber scheint darauf hinzuweisen, daß es irgendwo außerhalb des Bildes Wasser gegeben haben muß. Zusammen mit dem schmächtigen Bäumchen, Hühnern und dem Paar vor dieser Behausung wirkt die Szene wie ein Bühnenbild zu einem Beckett-Stück.

Entstanden ist die Aufnahme für die Anthropologische Gesellschaft, deren Vorsitzender Virchow war, zur Dokumentation von »Gehöftstypen in Ostpreußen, Norddeutschland und Pommern« in den Jahren 1880-90. Ein Stück Deutschland begegnet uns in der Fotografie, aufgezeichnet als bizarre Exotik und vielleicht gerade deshalb als Zumutung an die eigene Identität.

Auch die im Museumsarchiv so zahlreichen und für die Trachtensammlung in Dahlem so wichtigen Fotografien der deutschen Tracht zeigen uns teils ganz phantastische, ja skurrile Eingeborene aus unserem eigenen Land. Die Fotografien zeigen noch einmal, wie es war zwischen 1910 und 1920 in einem niederdeutschen Hallenhaus mit Schinken und Würsten, die im Rauch über dem gestampften Lehmboden hingen. Gekocht und geheizt wurde mit Holz und Torf. Es ist eine fremde Welt, und doch sind wir mittels der Fotografie mittendrin zwischen den Emailleschüsseln, den aufgehängten Blecheimern und geflochtenen Körben. Was aber für unsereins ein reizvoll fernes Land ist, wird dem Volkskundler zu einer sprechenden Quelle, um herauszufinden, wie die Leute damals gelebt haben. Neben diesen Beispielen für eine volkskundliche Fotografie des eher distanzierenden Blicks des Forschers und des Außenstehenden (der uns die Motive so fremdartig werden läßt) zeigt die Ausstellung auch Bilder, die die Leute von sich selbst gemacht haben oder die in ihrem Auftrag von ihnen gemacht worden sind. Man ist plötzlich dabei bei Hochzeit, Taufe oder Einschulung, aber auch inmitten von Wandergesellen und Kriegspatrioten, dabei im Felde, und in der guten Stube. Anlaß des Fotografierens waren meist die »biographischen Höhepunkte«.

Die Vitrinen präsentieren die Exponate mit ihren aufwendigen Rahmungen oder in prunkvoll gearbeiteten Alben. Bis in die zweite Hälfte des letzten Jahrhunderts ist der Anteil der selbstgemachten Amteuraufnahmen ja noch gering; man geht zum Fotografen ins Atelier, oder der Wanderfotograf kommt mit dem Jahrmarkt vorbei. Die ersten Fotografien wie später der Cinematograph, »die lebende Fotografie«, begann ihre Karriere als Kuriosität neben der Schlangenfrau und der Schießbude. Zum erstenmal aber war es nun so gut wie jedermann möglich, sein eigenes Porträt zu besitzen. Es gab das kleine und preiswerte visite carte-Format, die Massenware, je größer das Format, desto teurer und klangvoller wurden die Namen: Victoria, Cabinet, Promenade, Boudoir und schließlich Imperial (175 x 250 mm). Fast ausschließlich Porträts wurden aufgenommen, zur »Erinnerung an das Jahr 1900« beispielsweise, wie es auf einem reichverzierten Passepartout zu lesen ist. Wie sahen die Schulklassen zu Anfang dieses Jahrhunderts aus? Die Fotografie vermittelt Anschauungsunterricht: Mädchen in Uniform und Jungs in Matrosenanzug. Die gutbürgerliche Hochzeitstafel; was wurde gegessen, wie zog man sich an? Alles ist in den Fotos zu sehen: das Familienoberhaupt im Frack und mit des Kaisers Bart. Fotoalben ersetzen die Familienchronik, sie zeichnen Geschichte auf, zeigen aber auch den Umgang, die Gebrauchsweisen der Fotografie. Schließlich haben diese Amateuraufnahmen auch ihre eigene, spröde Ästhetik. Gerade weil sie auf den künstlerischen Anspruch verzichten, wirken sie authentisch, sind ein (manchmal auch voyeuristischer) Einblick in ein anderes Dasein.

Wie aufschlußreich dieser Blick der Betroffenen auf ihre eigene Lage sein kann, zeigen besonders die Fotos aus den Weltkriegen. Ganz im Gegensatz zu den Darstellungen von Kriegsberichterstattern und Propagandakompanien zeigen die Bilder der Soldaten, was sie wirklich erlebt haben, den unheroischen Alltag des Krieges. Bis in die ersten beiden Kriegsjahre des Ersten Weltkrieges sind noch Studioaufnahmen in schmucker Uniform beliebt, wobei selbst schon die kleinsten Knirpse als Husaren posieren. Die Front im Stellungskrieg sieht anders aus. Dort hausen die Mannschaften in einer gesichtslos gewordenen Landschaft unter lose über einige Äste geworfenen Planen. Auch vom Siegesgeschrei ist während des zweiten Krieges nichts mehr zu spüren. Was die privaten Fotos nun oft zeigen, sind Trümmer und Gräber. Ronald Berg

Das alltägliche Foto. Beispiele aus den Beständen des Museums für Volkskunde. Im Winkel 6/8, Dahlem, Di.-Fr. 9-17, Sa./So. 10-17 Uhr. Bis zum 30. August.