»Man kann beim Austausch nur gewinnen«

■ Für Ost-Lehrer kann das Wagnis, an einer West-Schule zu unterrichten, zu neuem Selbstbewußtsein beitragen

»Lehrer spielen sowieso den ganzen Tag Tennis. Deshalb arbeiten sie fortan eine Stunde länger. Du aber bist eigentlich gar kein Lehrer. Wir können so tun, als wärst du einer. Doch daß dem nicht so ist, merken die Eltern spätestens, wenn du anfängst, ihre Kinder zu bewerten. Was auch immer — bezahlt wirst du jedenfalls erst mal wie unsere Putzfrau.« Mit ungefähr dieser Einstellung hat der Senat Gunter Boortz empfangen, zumindest hat der Lehrer aus dem Ostteil der Stadt es so empfunden. Natürlich war er verunsichert: ein neues Schulsystem, neue -gesetze und neue Rahmenpläne haben ihm den Rest gegeben. Der Selbstzweifel begann an ihm zu nagen.

»Angriff ist die beste Verteidigung«, sagte er sich und ging als Lehrer für Arbeitslehre und Informatik an eine Gesamtschule in Wedding. »Um es mir und denen zu zeigen.« Er begann in Team- Teaching mit einem Kollegen, der knapp dreimal soviel verdient wie er. Nach kurzer Zeit übernahm er einige Klassen ganz. »Höflich und nett« seien die Schüler gewesen. »Erschreckende Lücken« aber fand Boortz in deren Allgemeinwissen. »Besser schon kannten sie ihre eigenen Rechte.« Die besten Schüler seien allerdings häufig solche gewesen, die nach der Wende von Ost-Schulen übergewechselt sind. Sechs von zehn Schülern an Boortz' neuer Schule sind Ausländer. Auf deren »oft forderndes Auftreten« mußte er sich erst einstellen.

Boortz unterrichtet auch noch an seiner alten Gesamtschule in Ost-Berlin. Am Ende des Schuljahres wird er dorthin (wo inzwischen Herr Kleemann tätig ist) zurückkehren. Die Veränderungen sind ihm Anlaß zur Sorge: »Viele Schüler leben ihre neue Freiheit voll aus. Darauf reagiert so mancher Lehrer phlegmatisch und sagt sich: ‘Ist deren Sache.‚« Lehrerunsicherheiten in Zeiten des »Kündigungs-Damoklesschwertes« könnten also einreißen lassen, was es bisher nicht gab. Dagegen sträubt sich Boortz auch im Westen, wo Stricken, Pennen und Kaugummi zum Alltag gehören. Er kann das nicht akzeptieren. Eben: »Disziplin wie zu den besten Ostzeiten.«

Doch das sind Kleinigkeiten. Empört ist Boortz über ganz andere Entwicklungen: Das Ende der DDR bedeutet nicht das Ende der Ausgrenzung. Früher die Andersdenkenden — heute: die sozial Schwachen. Gerade ist Boortz von einer Klassenfahrt zurückgekommen. Drei Schüler mußten zu Hause bleiben, weil ihre Eltern arbeitslos geworden waren. Am Ende hat Gunter Boortz sein Selbstbewußtsein wieder, hat gar »intellektuell« profitiert. Jedem, der »vergessen hat, was er kann«, rät er, am Austausch teilzunehmen: »Man kann nur gewinnen.« Arne Siebert