Fußball unter der Mitternachtssonne

Wer wird Fußball-Europameister? Wird doch noch der EM-Star geboren? Was wird hier eigentlich gespielt? Fragen über Fragen, die weder ein alter Lappe noch die Elchpopulation beantworten kann  ■ Aus Kiruna Matti Lieske

Unbarmherzig brennt die Mitternachtssonne hernieder, in der Ferne reckt sich das schneebedeckte Haupt des Kebnekaise gen Himmel, kleine widerliche Moskitos mit schlechtem Charakter, die, weil es keine Dämmerung gibt, in der sie gehäuft auftreten können, den ganzen Tag über gehäuft auftreten, fallen über arglose Wanderer her — in Kiruna geht alles seinen gewohnten Gang. Hier droben in Nordkalotten, wo sich Elch und Rentier keineswegs gute Nacht sagen, wo nicht nur Nils Holgerssons Wildgänse die Nacht zum Tage machen und wo in der Mittsommernacht die Feen im strahlenden Spotlight tanzen müssen und sich nur notdürftig mit den aus den Seen aufsteigenden Nebelschwaden verschleiern können, mutet die Fußball-Europameisterschaft seltsam fern an.

Zwar kann man vom Gipfel des Kebnekaise angeblich ein Elftel Schwedens überblicken, bis zu den Stadien in Stockholm und Göteborg reicht der Blick jedoch nicht. Fußball wird in Kiruna recht kleingeschrieben, der örtliche Fußballverband haust in einer unscheinbaren Holzhütte am Ortsrand. Inger Samuelsson, der Vorsitzende, ist gleichzeitig Trainer des lokalen Teams, dessen Erfolge sich allerdings in Grenzen halten. „In Kiruna spielt Eishockey seit jeher eine viel größere Rolle“, sagt Samuelsson. Die Gemeinde, flächenmäßig lange Zeit die größte der Welt, bis ihr eine expandierende australische Kommune den Rang ablief, hat noch keine berühmten Fußballer hervorgebracht, dafür aber etliche Eishockeystars, unter anderem den legendären Börje Salming, der bei den Olympischen Spielen von Albertville, vierzigjährig, immer noch die Seele des schwedischen Teams war.

Während sich der altehrwürdige Lappe, der vor dem Tourismusbüro in der Sonne sitzt, als ungeeignetes EM-Orakel erweist und sein Desinteresse an den Chancen der Dänen im Finale durch ein gleichgültiges Schulterzucken bekundet, haben die Fußballfans von Kiruna das Turnier durchaus engagiert verfolgt, zumindest solange ihr Team mit von der Partie war. Das Ausscheiden der Gastgeber gegen die Deutschen hat überall in Schweden das Interesse an der EM kräftig gedämpft, das allerdings auch vorher nicht gerade übersprudelnd war. „Schaut euch doch um“, sagte Schwedens Mittelfeldspieler Anders Limpar nach dem gloriosen 2:1-Sieg gegen die Engländer, „in Italien würde jetzt das ganze Stadion um uns herumstehen und jubeln. Hier sind die Leute zufrieden und gehen heim.“ Schweden habe im Fußball bisher so wenig erreicht, daß der Stellenwert der Kicker eben nicht sehr hoch sei.

In Kiruna schon gar nicht. Dennoch hat der Höhenflug der Dänen auch hier Begeisterung geweckt. Wie diese praktisch aus dem Urlaub gekommen seien, frisch drauflosgestürmt und sich von Spiel zu Spiel gesteigert hätten, das habe ihm sehr gefallen, sagt der Betreiber des Cafés, das sich im alten, zum Museum umgewandelten Haus des Stadtgründers Hjalmar Lundbohm befindet. Aber nun seien sie vermutlich völlig fertig und hätten gegen die Deutschen wohl keine Chance. Was die denn überhaupt so vor dem Finale sagen würden?

Nichts leichter als die Beantwortung dieser Frage. Kurze telepathische Kontaktaufnahme mit Atvidaberg, und schon taucht das Antlitz von Berti Vogts am leuchtend blauen Firmament auf: „Wir dürfen und werden den Gegner nicht unterschätzen; wir werden dort anknüpfen, wo wir gegen Schweden aufgehört haben; wir müssen von Anfang an konzentriert und aggressiv spielen; wir dürfen nicht den Fehler der Holländer machen und die Dänen ins Spiel kommen lassen. Wir haben gut gearbeitet, und wenn wir unser Spiel spielen, dann wird der Weltmeister auch Europameister.“ Im übrigen werde auch vor dem Endspiel die Aufstellung wie üblich eine Stunde vor dem Spiel bekanntgegeben. Und dann folgen ein, zwei Scherze, die der Bundestrainer hinterher umständlich erklären muß, weil sie wieder kein Schwein verstanden hat.

Die Spieler verlautbaren, sie würden zwar alle gern spielen, wenn nicht, müßten sie sich aber damit abfinden. Welche Position, muß der Trainer entscheiden, eine besondere Motivation sei vor einem EM-Finale nicht nötig, sie müßten von Anfang an aggressiv und konzentriert spielen, auf jeden Fall seien die Dänen zu packen, man dürfe sie bloß nicht unterschätzen, aber das werde man auch gar nicht tun.

Berti Vogts und seine Spieler verblassen, und das ist gut so. Eine repräsentative Umfrage unter der Elchpopulation würde vermutlich wertvollere Aufschlüsse über das EM-Finale liefern als die Befragung der deutschen Delegation.

Der Caféhauswirt serviert exzellenten Blaubeerkuchen und wird dabei von der allgegenwärtigen Frage nach dem Niveau dieser EM bewegt. Nicht schlecht insgesamt, lautet das einhellige Urteil der Anwesenden, die Spiele der Schweden, abgesehen von dem unseligen Halbfinale gegen die Deutschen, seien recht gut gewesen, ebenso die der Dänen und der Schotten. Die Partien Deutschland — Schottland, Schweden-England und Deutschland-Niederlande waren hervorragend, das Halbfinale Dänemark-Niederlande ein echter Knüller. Vergessen könne man bloß die Franzosen und die GUS. Alles in allem weit erfreulicher als die letzte WM, und besser sei es auch bei den Europameisterschaften 1984 und 1988 nicht gewesen.

Und wo war der Star, die große Entdeckung des Turniers? Naive Frage! Wie soll bei der Vielzahl von Europacup-Spielen plötzlich ein europäischer Supercrack auftauchen, den vorher niemand kannte. Das gelang in den letzten 20 Jahren bloß Bernd Schuster 1980 und Enzo Scifo 1984. Ansonsten waren die Stars anerkannte Fußballvirtuosen auf dem Zenit ihrer Karriere: Michel Platini 1984, Ruud Gullit und Marco van Basten 1988 — keineswegs zufällig Angehörige der jeweiligen Europameistermannschaft. Damit sind Gullit, Papin, Brolin diesmal aus dem Rennen, bleibt angesichts der dänischen Homogenität nur noch Thomas Häßler.

Aber werden die Deutschen tatsächlich Europameister? Allgemeines heftiges Achselzucken! Wer begreift schon die Dänen, die derzeit Europa auf allen Ebenen durcheinanderwirbeln. Vielleicht sollte man doch noch mal den alten Lappen vom Tourismusbüro fragen.