: Der Countdown im Bundestag
■ Über 100 Abgeordnete wollten ans Pult. Dennoch: kaum Argumente, die nicht schon oft gehört worden waren. So verlagerte sich das Interesse in die Wandelgänge, wo man sich auf die nächtliche Abstimmung...
Der Countdown im Bundestag Über 100 Abgeordnete wollten ans Pult. Dennoch: kaum Argumente, die nicht schon oft gehört worden waren. So verlagerte sich das Interesse in die Wandelgänge, wo man sich auf die nächtliche Abstimmung vorbereitete.
AUS BONN KARIN FLOTHMANN
Sie hätten zusammen mit der korrupten Rita Süssmuth KZ- Aufseherin im SED-Stasi- Staat werden sollen, Sie Mördergesindel!“ Nach dieser Manier waren viele der aufmunternden Briefe freundlicher Bürger, die der CDU-Abgeordneten Angelika Pfeiffer gestern auf ihrem Weg in den Bundestag mit ihrem Rat zur Seite stehen wollten. Die Leipzigerin ist eine der CDU-AbweichlerInnen, die gestern für den gemeinsamen Gruppenantrag von SPD und FDP stimmte. Wie sie konnten auch nicht wenige Abgeordnete von SPD und FDP in den letzten Wochen ein Lied von den infamen Beleidigungen der Lebensschützer-Front singen.
Um die Liberalisierung des Abtreibungsrechts oder die Beibehaltung des §218 nach westdeutscher Fassung in leicht modifizierter Unionsform ging es dann gestern im Bundestag in erster Linie. Zwar standen insgesamt fünf Gesetzentwürfe zur Disposition, und sowohl Christina Schenk vom UFV/Bündnis 90/ Grüne als auch Petra Bläss (PDS) setzten sich noch einmal vehement für die von ihnen eingebrachte ersatzlose Streichung des Paragraphen ein. Doch von Anfang an war klar, daß diese Entwürfe und auch die verschärfte Variante der Gruppe um den CDUler Werner, die Irlands Zustände auf Deutschland übertragen wollte, keine Chance im Parlament hatten. Zur Disposition standen lediglich das Indikationsmodell der Union und der überfraktionelle Gruppenantrag einer Fristenregelung mit Beratungspflicht.
Und so bezogen sich Redner und Rednerinnen gestern in erster Linie auch auf diese beiden Gesetzentwürfe. Insgesamt hundert traten an, um ihre Meinung kundzutun — und dabei ging es beileibe nicht nur um den Schwangerschaftsabbruch. Nein, alle Abgeordneten — von den Lebensschützern um Herrn Werner einmal abgesehen — hatten sich tatsächlich schon tiefergehende Gedanken um das Selbstbestimmungsrecht der Frau, um Lebensschutz und vor allem auch um gesellschaftliche Realitäten gemacht. Über zwölf Stunden lang wurde ohne Unterbrechung in Marathonmanier geredet. Die SPD- Abgeordnete Inge Wettig-Danielmeier, die maßgeblich an der Kompromißfindung mit FDP- und CDU- Dissidenten beteiligt gewesen war, brachte gleich zu Beginn der Debatte noch einmal zur Sprache, daß sie die Strafandrohung für Frauen, die abtreiben wollen, für absolut sinnlos hält. Dennoch sah sie zusammen mit den meisten ihrer GenossInnen keinen anderen gangbaren Weg, als den Gruppenantrag mit Beratungspflicht und Strafandrohung zusammen mit der FDP zu unterstützen. Sie verwies wie viele ihrer NachrednerInnen auf die untragbaren gesellschaftlichen Zustände, in denen Frauen heute Kinder gebären sollen. Dabei bekamen natürlich auch die Männer ihr Fett weg, denn: „Jede kluge Frau weiß, auf den Vater kann sie sich nicht verlassen — ob verheiratet oder ledig.“ Solcherart angegriffen, murrten die Herren in den hinteren CDU/ CSU-Bänken denn doch auf. Das Murren steigerte sich, bis Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth eingriff: „Frau Wettig-Danielmeier, vielleicht warten Sie, bis sich die provozierten Väter wieder beruhigt haben.“
Mit der Meinung, das Strafrecht habe beim Schwangerschaftsabbruch längst ausgedient, stand die Schatzmeisterin der SPD nicht allein. Denn auch wenn ihre Vorrednerin, die CDU-Abgeordnete Irmgard Karwatzki, die den Unionsentwurf verteidigte, meinte, „Soziale Hilfe kann Strafrecht nicht ersetzen“, so setzte doch am Nachmittag der Unionspolitiker Horst Eylmann dagegen: „Strafrecht hat auf dem Gebiet keine Relevanz mehr.“ Der Vorsitzende des Rechtsausschusses, der zu den ersten Anhängern des SPD/ FDP-Gruppenantrags gehörte, verwies darauf, daß das Indikationsmodell von CDU und CSU nur eine „Scheinlösung“ sei. Angesichts der gesellschaftlichen Realitäten, die bewiesen, daß zu 90 Prozent die Frauen die „Last“ der Kinderaufzucht zu tragen haben, stellte Eylmann sich und allen Abgeordneten die Frage: „Kann ich es einer Frau zumuten, ihre Schwangerschaft auszutragen?“
In einer gleichfalls ausgefeilten Rede mit Rückgriffen in die Kirchengeschichte und die frauenverachtende Historie stellte die FDP-Abgeordnete Uta Würfel heraus, die Beratung sei „Dreh- und Angelpunkt“ ihres Gruppenantrags. Wie andere FDP-PolitikerInnen nach ihr unterstrich sie die Bedeutung der Beratung mit dem Ziel des Lebensschutzes. Gleichzeitig betonte sie aber auch die Selbstverantwortung und das alleinige Entscheidungsrecht der Frau. Dennoch, es blieb ein eleganter Drahtseilakt, mit dem sowohl sie als auch später ihr Fraktionskollege Gerhart Baum Lebensschutz und Selbstbestimmungsrecht der Frau verknüpften. Denn beraten wird zwar mit dem vorrangigen Ziel des Lebensschutzes, die letztendliche Entscheidung über das Ja oder Nein zur Abtreibung soll ganz allein bei der Frau liegen. Wie frau sich das in einer bayerischen Kleinstadt vorzustellen hat, kam nicht zur Sprache.
Nach den ersten drei Hauptrednerinnen von CDU, SPD und Liberalen lichteten sich die Reihen im Plenumssaal abrupt. Vor allem in den Reihen der FDP widmete mann sich intensivem Zeitungsstudium, einige SPD-Abgeordnete beliebten zu telefonieren. Und Bundeskanzler Kohl hatte schon längst mit grimmiger Miene das Weite gesucht. Er nahm lieber vor den Pforten des alten Wasserwerks das Präsent eines ihn verehrenden Bürgermeisters entgegen und stellte sich den Fotografen. An seine Seite zitierte er noch Rita Süssmuth, und so lächelten denn beide einmütig in die Kameras. Erstaunliche Eintracht, nachdem der Kanzler doch so viel Mißfallen an seiner abtrünnigen Parteikollegin und ihrem Eintreten für den SPD/FDP-Gruppenantrag hatte äußern müssen.
Pünktlich zur Rede von Angela Merkel fand sich der Kanzler dann wieder im Plenarsaal ein. Die CDU- Frauenministerin ließ wieder einmal eine ihrer durch und durch aussagekräftigen Reden vom Stapel und betonte eindringlichst die nun bald geschaffenen Kindergartenplätze, die uns Ende der 90er Jahre dann endlich als Rechtsanspruch erreichen sollen. Bei so viel Linientreue strahlte der Kanzler wieder.
Mit Applaus und Zwischenrufen hielt sich das Plenum erstaunlich zurück. Emotionen rumorten vornehmlich in den Hinterbänken von CDU und CSU, dort, wo Lebensschützer Werner den meisten Applaus erntete. Im Gegensatz zur gewohnten Nichtbeachtung erntete Konrad Weiß vom Bündnis 90 gerade aus diesen Reihen ernsthafte Aufmerksamkeit. Mit ruhigen, beinahe schon besinnlichen Worten schlug Weiß einen Bogen vom Krieg bis hin zur Abtreibung. „Ich habe als Katholik nie einen Hehl aus meinem persönlichen Nein zur Abtreibung gemacht“, sagte er, dennoch halte er den Gruppenantrag für die bestmögliche Lösung für Frau und Mann.
Die Stimmung in den Wandelgängen blieb verhalten. Rechenexempel wurden aufgestellt, 24 CDU-Abtrünnige pro Gruppenantrag, minus vier FDP-Dissidenten, minus mindestens drei SPD-Dissidenten... Wenn die taz in den Briefkästen liegt, wissen wir, ob's gereicht hat.
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