NEU IM KINO: Van Gogh Zwischen den Menschen gelesen

Dieser Van Gogh hat Augen, vor denen die dümmsten Ochsen zusammenbrechen. So schaut quasi die Kunst den Menschen an, zumal wenn er taumelt vor diesem Blick: wachsam und umso gleichgültiger. Da steigt also, drei Monate vor seinem Tod, der Maler in Chaponval nahe Aubers aus dem Zug, mietet sich in einem billigen Gasthof ein, trifft den Homöopathen Cachet, malt ihn, hofft auf Heilung, malt seine Tochter Marguerite, trinkt Wein, malt, küßt Nutten, mustert Marguerite, schießt sich in den Bauch, liegt zwei Tage auf seinem kahlen Zimmer und stirbt, gegen die Wand gedreht. So geht's; aber am Ende dieses wunderreichen Films ist es, als hätte nun, was immer der Maler gesehen hat, verschwinden müssen.

Zuvor durften wir zweieinhalb Stunden lang dem glücklichen Wahn erliegen, daß uns einmal, einmal wenigstens im Kino nichts mehr verborgen bleiben kann: Maurice Pialat hat mit seinem Van Gogh das ganze Drama seiner kleinen Sozietät bis zur Sichtbarkeit zerlegt in eine anrührende Vielfalt von lauter Hin und Her, von Reflexen und Stupsern, von offenen Anstößen und heimlichen Wißbegierden.

Die kleinsten Szenen haben ihr Leben, die geringsten Gestalten sind von Belang, alle haben mit allen zu schaffen an der seltsamen Herstellung von Kunst aus Verwirrung, und jeder der vielen merkwürdigen Blicke, die zwischen den Leuten hin oder her gehen, schmachtend aus Haß, keck vor Angst, scheu vor Übermut, jeder öffnet eine Welt. Man wäre verloren in dieser Fülle, ginge die Kamera nicht derart achtsam ihren sozialen Interessen nach. So genau erschließen uns ihre Einstellungen, was im geringsten vorgeht, daß man glauben möchte, sie könne zwischen den Menschen lesen. Nicht umsonst gab's in Cannes 1991 den Preis fürs beste Drehbuch.

Ebenfalls gepriesen wurde der Darsteller des Malers, Jaques Dutronc, in Frankreich hauptberuflich als Sänger berühmt. Im Film ein Augentier, lauernd; und immer so sterbensmüde auf dem Sprung. Für all die Menschen, die sich vor ihm in wohlige Fieberschauer flüchten, ist er die belebende Katastrophe; neben all den blinden Vitalitäten ist er der vollkommen leere Künstler, der immerfort produziert und von der Welt beim Versuch, sie zu malen, nur gestört werden kann. Und Marguerite, die ihm durch eine der bewegendsten Liebesgeschichten am weitesten folgt, treibt ihn am Ende in die größte Ferne. schak

Schauburg, Gr. Haus, tägl. 17.30 (So. stattdessen: 15.30) / 20.45 Uhr (OmU)