Ein barbarischer Denker von unnatürlicher Wollust

■ Ketzerisches zum 90. Geburtstag von Günther Anders, anläßlich mancher Reden

Immer ihr, mit eurer Ablenkung. Ihr habt kein Interesse an der Wahrheit, wenn ihr so darüber denkt. Eure allgemeine Aufgeschlossenheit (ein Abend mit Cape Fear, ein Abend mit Bluecuracao), ist mir ein Greul. Ja, ich stelle mich quer zu eurer Barbarei (Ihr nennt das wohl Kultur): Ich werde 90, und ihr in Berlin macht euch 'nen ruhigen Abend mit meiner Unbequemlichkeit«, sagt der Mann in meinen Ohr. Ich schlage im Literaturhaus Berlin gerade die Beine übereinander und das Buch zu, nehme den vortragenden, wohlgekleideten Herrn, einen Univ. Doz. namens Konrad Paul Liessmann, in Augenschein. Wenn du mich meinst, Mann im Ohr, lenk mich jetzt nicht ab, ich muß arbeiten!

Im Literaturhaus in der Fasanenstraße also hat sich ein Fanclub eingenistet. Gleich für zwei Abende und zwei Vorträge. Ihm zu Ehren. Klammheimlich, weil er sich doch die Ehre verbittet. Ich meine: Günther Anders. Der Mann, der 1956 Die Antiquiertheit des Menschen schrieb. Ein Klassiker der Technikkritik. Schließlich stellt Anders in seinem Buch lapidar fest: Der Mensch stellt mehr her, als er sich vorstellen kann. Und schämt sich vor der Perfektion der Maschinen. Die Technik hat den Menschen als Subjekt der Geschichte abgelöst. Nicht wir beherrschen die Geräte, sondern die Geräte beherrschen uns.

Verkehrte Welt? Ein Phantast? Ein hybrider Metaphysiker, ein durchgeknallter Ontologe, ein renitenter Maschinenstürmer? — Ich weiß nur, daß mir beim Lesen seiner Texte einmal Freudentränen in die Augen schossen. Weil da einer sagt, um der Wahrheit überhaupt noch zu Leibe zu rücken, müsse er hemmungslos übertreiben. Ein Analytiker, für den die Hiroshima-Atombombe wenig mit dem Ende des 2. Weltkriegs und viel mit der täglich fortschreitenden Rationalität (Industrialisierung, Arbeitsteiligkeit, Primat der Effizienz) zu tun hat. Eine Monströsität, vor der Kultur versagen muß. Denken ist Barbarei.

Günther Anders ist ein Philosoph, der das ganze Versöhnungs-, Aufhebungs- und Überschreitungsgetue der ästhetischen, kritischen usw. Theorie verlacht. Und immer der Dumme dabei ist. Anders' heute wohl berühmtester Satz hat sich prompt J.P. Sartre unter den Nagel gerissen, ohne Quellenangabe: »Der Mensch ist verdammt dazu, frei zu sein.« So ein Satz und geklaut!

Am 12.Juli 1902 wurde Günther Anders als Sohn der Psychologen Clara und William Stern in Breslau geboren. Er promovierte 1923 beim Phänomenologen Edmund Husserl, scheiterte 1929 am Widerstand Theodor W. Adornos mit seiner Habilitationsschrift »Untersuchung zu musikalischen Situationen«. 1933 floh er mit seiner Frau Hannah Arendt nach Paris, emigrierte 1936 nach Amerika. Die USA erklärten Anders in den 60er Jahren zur persona non grata, weil er sich staatsschädigenderweise gegen den Vietnam-Krieg eingesetzt habe (1961 erschien sein Briefwechsel mit dem Hiroshima-Piloten Claude Eatherly). Heute lebt Anders, schwer krank, in einem Pflegeheim in Wien. Die Kurzbiographie eines Klassikers?

Weit gefehlt. Die Wiener Universität hat 41 Jahre lang darauf verzichtet, Günther Anders auch nur zu einem Vortrag einzuladen. Im 42. Jahr bot sie Anders die Ehrendoktorwürde an. Der sagte nein. Erst in den 80er Jahren, zu seinem 80. Geburstag, war ein Teil des literarischen, essayistischen und theoretischen Werks neu verlegt worden. Anders »paßte« damals ganz gut in die Reihen der AtomkraftgegnerInnen und Ökobewegten, die gegen die menschenverachtende Technik auf die Barrikaden gingen. Anläßlich eines Interviews entsann man sich, daß Günther Anders bereits 1982 in seinen »Ketzereien« die These aufgestellt hatte, Gewalt gegen die Atommacht und ihre Mächtigen sei legitim. Immerhin ist ein Ketzer in Deutschland seit dem 13.Jahrhundert »jemand, der unnatürlicher Wollust frönt.«

Ist das der Prototyp, ist das Günther Anders? Michael Rohrwasser, Germanist an der Freien Universität Berlin, versucht einen Abend nach Konrad Paul Liessmann dem durchlauchten Publikum über die Ketzer- These zu erklären: »Ein Ketzer kritisiert die Kirche von innen. Er will gehört werden. Er muß unbescheiden sein. Er ist dogmatisch.«

Das alles mag stimmen. Aber es ist nur die Pepsi-Version. Nichts von dem gewitzten Kopf, der zwischen den Anders-Zeilen zu erkennen ist. Einen ganzen Abend lang hören zu müssen, wie provokant und verkannt doch einer sei, erscheint mir reichlich antiquiert. Vielleicht haben die Vorträge damit zu tun, daß niemand Günther Anders langwierig ausdeuten muß, um ihn zu verstehen. Das bedroht WissenschaftlerInnen förmlich mit Beschäftigungslosigkeit.

Wo war ich stehengeblieben im Text, welche Seite der »Antiquiertheit« hatte ich im Verlauf des Abends verschlagen? »... Daß Gott oder die Natur dem Menschen ein basic need, ein Grundbedürfnis nach Coca-Cola eingepflanzt habe, wird man ja selbst im Herstellungsland nicht behaupten. Aber auf Coca-Cola hat sich der Durst nun einmal eingespielt; und das, obwohl dessen heimliche letzte Funktion gar nicht im Durst-Löschen besteht, sondern im Durst-Erzeugen; und zwar im Erzeugen eines Durstes, der zum spezifischen Durst nach Coca Cola wird. Hier ist also die Nachfrage das Produkt des Angebotes; das Bedürfnis das Produkt des Produktes.« Ich verlasse das Literaturhaus und gehe über den Ku'damm zur U-Bahn. »Jetzt mach' endlich das Buch zu und sperr die Augen auf«, faucht der Mann in meinem Ohr, als ich Anstalten mache, in einen offenen Kanalschacht zu fallen. Hölle, wie das da unten stinkt! Mirjam Schaub