Stockende Wahrnehmung

■ Das Gemeinschaftsprojekt »Stasis« in der Produzentengalerie Bergmannstraße 110

Der kleinste gemeinsame Nenner neokonzeptualistischer Arbeiten besteht darin, sich nicht mehr allein auf die Präsenz des einzelnen, sichtbaren Kunstwerks zu beschränken. Die Abkehr vom ausgestellten Gegenstand geht einher mit dessen Eingliederung in einen übergeordneten Gedankenzusammenhang, der dann das eigentliche Kunstwerk darstellt. Nimmt man die Objekte nur noch als Teil eines Ganzen, als Stichwortgeber, sind den Gestaltungsmöglichkeiten keine Grenzen gesetzt. Und so treffen auch in der Kreuzberger Produzentengalerie Bergmannstraße 110 die unterschiedlichsten Ausdrucksmittel aufeinander.

Am Anfang war das Wort. Der Begriff Stasis diente den Berliner KünstlerInnen Andreas Ginkel, TC Pollmann, HC Wilp sowie dem Kunsthistoriker Herbert Jochmann als Thema ihres gemeinsam erarbeiteten Projekts. Stasis stammt aus dem Altgriechischen, findet heute hauptsächlich in der Medizin Verwendung und kann mit Stauung oder Stockung übersetzt werden. Bildhaft gesprochen steht der Ausdruck für eine verlangsamte, infolgedessen intensivierte Wahrnehmung. »Als Wiederkäuer versteht es sich von selbst, Ereignisse noch einmal Revue passieren zu lassen«, schreibt Pollmann im Begleittext. Mit hintergründigem Humor lenkt sie den Blick auf das Irrationale, Unerklärliche und nicht Nachweisbare. Auf das, was in wissenschafthörigen Zeiten unter dem Diktat des empirischen Beweises zu verschwinden droht. Wie beispielsweise die Phantasie. Die Berliner Künstlerin beschäftigt sich schon seit längerem mit einer von ihr entwickelten quasi wissenschaftlichen Gegenwelt. Kunstobjekte, die an nie gesehene Reptilien erinnern, versehen mit lateinisch klingenden Nonsensnamen, bilden das Anschauungsmaterial dieser merkwürdigen Zoologie. Auf Landkarten ist die fiktive Verbreitung der jeweiligen Gattungen eingezeichnet. In der Bergmannstraße 110 dominieren — dem Thema des Wiederkäuens gemäß — wüste Entwicklungsgeschichten verschiedener Magen- und Darmtrakte.

Beiträge für das Stasis-Projekt zu liefern, war HC Wilp ein leichtes. »Meine Kunst hat generell viel mit Stocken, Anhalten, Reflektieren zu tun.« Wilp greift daher auf ältere Arbeiten zurück. Die erste besteht aus einer per Computer erzeugten Klangfolge, deren monotone, maschinenhafte und mit beträchtlicher Geschwindigkeit ablaufende Mechanik sich penetrant bis an die Schmerzgrenze in den Vordergrund drängt. Exakt alle acht Minuten wird diese akustische Kampfhandlung durch einen ausgeklügelten Rhythmus unterbrochen. Er hebt trotz des akkurat eingehaltenen Intervalls jegliches Zeitgefühl auf. Umfangreicher ist Wilps zweiter Beitrag, am ehesten zu bezeichnen als eine Suche nach dem wirklich abstrakten Bild. Ein Bild ohne wiedererkennbare Formen, persönliche Handschrift, Komposition, Perspektive oder Illusionismus. Ganz im Sinne des amerikanischen, 1967 verstorbenen, Malers und Theoretikers Ad Reinhardt, der das Problem der absoluten Neutralität in seinen Black Paintings malerisch zu lösen versuchte und in seinen Schriften immer wieder formulierte. Ein Bild ohne Darstellung, ein Bild als Bildkritik, als leerer Fleck inmitten der alltäglichen visuellen Reizüberflutung. Vor zwei Jahren legte der Maler Wilp den Pinsel aus der Hand. Seitdem produziert er mit dem Computer unendliche Variationen einer anderen Ikone der abstrakten Malerei: Barnett Newmans Wer hat Angst vor Rot, Gelb, Blau. Besaß die Vorlage noch Komposition, Farbglanz und damit Inhalt, so ist Wilp weiter fortgeschritten auf dem Weg zum Nichtbild. Seine auf rund 1 x 1,20 Meter vergrößerten Newman- Versionen haben sich durch die hinter ihnen liegenden medialen Brüche zu sehr davon entfernt, wiedererkannt werden zu können.

Andreas Ginkels Raum in der Galerie dämmert im Zwielicht vor sich hin, als hätte jemand vergessen, die Beleuchtung einzuschalten. Zwei dunkle, vieleckige Spiegel hängen an den Wänden. Des Rätsels Lösung erfährt, wer sich länger in dem Zimmer aufhält. Manche überrascht es auch im Gehen: ein beinahe unmerklich kurzes Aufblitzen aus einer verborgenen Stroboskoplampe. Auch hier bewirkt der in stets denselben Zeitabständen ablaufende Vorgang paradoxerweise sein Gegenteil. Das Nachforschen, Warten, Unschlüssigsein dehnt und kontraktiert die Zeit. Endlos lang scheint es zu dauern, bis man der Gewißheit, dem nächsten Blitzen, ein Stück näherkommt, und dann geht es plötzlich verblüffend schnell.

Am Ende war das Wort. Jochmann verfaßte einen Text, der den Bogen spannt von der geistesgeschichtlichen Einordnung des Begriffs Stasis bis zur Analyse menschlicher Schweißdrüsen. In einer Schmuckkassette erhältlich, zusammen mit je einer Grafik der drei KünstlerInnen, auf Klarsichtfolie gedruckt. Eine sehenswerte Ausstellung, leider aber auch eine der letzten in der Bergmannstraße 110. Entgegen der ursprünglichen Planung muß die Galerie, die sich innerhalb kurzer Zeit zu einer festen Adresse im Berliner Kunstgeschehen gemausert hat, Anfang Oktober schließen. Wegen Mieterhöhung. Ulrich Clewing

Do.-So. 16 bis 20 Uhr, bis 28.6., Bergmannstraße 110