ES MUSS NICHT IMMER RÜGEN SEIN

■ Mecklenburgische Impressionen. Gewaltige Wolkenspiele, weidende Schafe, leicht Anhöhen und angestaute Wut, belastete Heimatbeziehung, Kulturstreit ums Plattdeutsche

Mecklenburgische Impressionen. Gewaltige Wolkenspiele, weidende Schafe, leichte Anhöhen und angestaute Wut, belastete Heimatbeziehung, Kulturstreit ums Plattdeutsche...

VONHELMUTHFRAUENDORFER

„Verstehst du nun, weshalb wir so an Mecklenburg hängen?“ fragten die Freunde auf der Rückreise. Ich nickte, eher verunsichert als sicher, ehe ich irgend etwas sagte. Denn die Freunde leben in (West-)Berlin, und in Berlin sprechen sie dauernd von Mecklenburg. Noch zu DDR-Zeiten mußten sie übersiedeln. Und irgendwann, sagen sie, wollen sie wieder zurück nach Mecklenburg.

Ich wollte mir nichts einreden lassen, nichts Bestimmtes verfolgen, suchen, weder ein Stück Osteuropa noch die Landschaften von Uwe Johnson. Ich wollte einfach nur mal nach Mecklenburg fahren; es mußte auch nicht gleich Rügen sein.

Die Fahrt nach Rostock. Ein gewaltiges Wolkenspiel prägt diese Landschaft. Unter dem Druck der sich ständig wandelnden Wolkenberge versinkt das Flachland. Die Landschaft hier scheint keine Tabus zu kennen. Und das Wolkenspiel drückt den Menschen tief in die Erde. Kommt daher wohl die so intensive Beziehung, die die meisten Mecklenburger zu ihrer Heimat haben? Diese Beziehung zur Heimat ist aber belastet. Frust und Unzufriedenheit stecken dahinter. Die Arbeitslosigkeit in Rostock ist groß. Und die Stasi-Offiziere sind aus der August-Bebel- Straße ausgezogen — in ihre Datschen am Strand.

Die einen lachen sich eins ins Fäustchen, die anderen nagen an ihren Fingernägeln. Vor angestauter Wut.

Von Rostock gen Westen schlängelt sich die Straße durch die leichten Anhöhen und über das Flachland. Allüberall Raps. Auf einer Anhöhe ein roter Leuchtturm, mitten im Grünen. Weidende Schafe. Dann wieder Wald. Knorrige Stämme und junges Geäst. In dieser Gegend wurde viel Wald gepflanzt, weil der Wind sonst den Boden abträgt. Immer wieder Wasser in Sicht. Die Ostsee und viele kleine Binnenseen.

Rote Klinkerbauten. Manche haben noch Strohdächer. Was einst billig und einfach und praktisch war, gehört jetzt zum teuren Luxus: das Strohdach. Bei Rerik die Verbindung des Salzhaffs zur Ostsee. Dann am Haff entlang. Das schlammige Ufer. Gänsefarmen. In den Dörfern Hühner auf den Straßen.

An der Grenze von Kreis Bad Doberan zum Kreis Wismar ein „Berg“. Aussicht auf die Landenge. Zu hören ist eine merkwürdige Mischung aus Vogelgezwitscher und Möwenschreien. Am Straßenrand in den Büschen eine schwarze Jacke und leere Weinflaschen.

Ich möchte eine Fischsuppe essen, doch das ist zuviel verlangt. In der frisch gestrichenen Gaststätte zwischen Poel und Wismar gibt's nur Soljanka. Auf geräucherten Aal habe ich keine Lust. Daß es keinen frischen Fisch gibt, wundert mich um so mehr, da vor dem Hafen von Wismar ein Fischmarkt ist.

In Wismar, wo auch Werner Herzog einst drehte, sind die Häusergiebel in der Fußgängerzone gut erhalten. Doch kaum ein Fußgänger ist zu sehen. Der Schlaf nistet nicht nur hinter den Fassaden, er kriecht schier spürbar durch die Straßen. Und auf den Ruinen der Sankt Georgenkirche wachsen Gras und Moos vor sich hin. Hier wird sich was ändern: Drahtbeschlag verhindert den Zugang zur Kirchenruine, eine Baustelle ist eingezogen, der kleine Kirchturm wurde bereits runtergehievt, um restauriert zu werden. An einem Haus in Wismar die Aufschrift: „Wer verarmen will und weiß nicht wie, kauf alte Häuser und baue sie.“ Ob das so wohl noch stimmt?

Der lebhaft plaudernde Kellner aus dem „Ziegen-Krug“ scheint überhaupt nicht in das Bild von Wismar zu passen. Laut und lachend erzählt er von seiner Schottlandreise, wobei das ältere Paar am Nachbartisch von seiner Erzählweise richtig eingeschüchtert wirkt. Wieder auf den Straßen von Wismar, scheint die Zeit stehengeblieben zu sein. Mir fällt ein, daß während der Leipziger Demos auch ein Plakat mit der Aufschrift zu sehen war: „Mecklenburg ist aufgewacht!“

Und in Mecklenburg, beklagen sich meine Mecklenburger Freunde, wurden immer wieder von den DDR- Behörden Leute aus anderen Gegenden angesiedelt, um die Infrastruktur zu zerstören. Und dann gibt es noch den kleinen „Kulturstreit“ um das Plattdeutsche, das als Sprache nicht anerkannt wurde...

In Warnemünde, an einem Abend, besuchen wir ein Antiquitäten-Café. Du kannst hier essen und trinken und danach das Besteck, mit dem du gegessen, oder den Stuhl, auf dem du gesessen hast, oder ein Bild von der Wand mitnehmen — falls die Kasse reicht. Zum ersten Mal habe ich so etwas in Wien gesehen. Gemütliche Atmosphäre im Café. Während des Gesprächs begegne ich wieder der DDR-Nostalgie, selbst bei Leuten, die zugeben, durch die Vereinigung nur Vorteile gehabt zu haben, aber jetzt sei alles anstrengender, hektischer, es gibt Konkurrenz... Im Gästebuch des Cafés eine Eintragung der Barbara Thalheim, eine höchst einfallslose Paraphrasierung des Vaterunser: „Kanzler unser, der du bist im Westen...“

Von Warnemünde mit der Fähre nach Markgrafen Heide, dann Hohe Düne gen Osten. Linker Hand, an der Ostseeküste, die Häuser der alten und neuen Offiziere. Wer im Rostocker Lütten-Klein-Viertel in der 19. Etage eines Wohnblocks wohnt, ist schon froh, mindestens von da aus einen Blick auf die See zu haben (wenn auch der Wind in der Wohnung bei geöffnetem Fenster sämtliche Türen zuschlagen läßt).

„Wenn ich nur so ein Zimmer hätte“, träumt ein Mann um die Fünfzig. Wir sind in einem Café auf der Halbinsel Darß, kurz vor Wustrow, ein großer Raum im Dachgeschoß, von Balken gestützt, mit direktem Blick aufs Meer, das etwa hundert Meter vor uns ans Ufer schlägt. „Ich könnte bis ans Lebensende da sitzen und hinausschauen“, sagt der arbeitslose Schiffsingenieur. Auch solchen Träumen peitscht der höchst unsanfte Wind an der Ostsee ins Gesicht. Denn zuvor sind wir durch Ahrenshoop gefahren, wo die Häuser Namen haben und wo es den „Millionenhügel“ gibt, wo die DDR-„Prominenz“ ihre Häuser hat, unter anderen auch der „schwarze kanalisierte“ Eduard von Schnitzler. Mein Gesprächspartner, ein Nichtraucher, spielt nervös mit meinem Feuerzeug und freut sich darauf, bald wieder zurückzufahren, um in Markgrafen Heide mit der Fähre nach Warnemünde überzusetzen, was auch zu DDR-Zeiten für den „Normalbürger“ möglich war.

Ein offenes Land. Geprägt von den Wolken, als würde das Flachland respektvoll vor dem Wolkenbild zurücktreten. Reetgedeckte Häuser, dazwischen der Blick auf den Saaler Bodden. In Prerow hat der Landwirt zwei Esel vor den Pflug gespannt. Bad Sülze, Moorlandschaft, wo auch noch Torf abgebaut wird. Ein unbewohnt wirkender, aber eindeutig lebloser Ort. Da grenzt es an ein Wunder, an einem Sonntagnachmittag ganze vier Jugendliche im Ortszentrum zu sehen.

Dann die Hügel der Mecklenburger Schweiz, die zahllosen Seen. Zahllos wie die Irritationen, die Hoffnungen, die Enttäuschungen. „Verstehst du nun, weshalb wir so an Mecklenburg hängen?“ fragt mein Mecklenburger Freund. „In einem dieser Seen möchte ich baden“, antworte ich. „Es ist zu kalt“, entgegnet er.