Der lange Blick in den Abgrund

■ Boris Becker hat wie gewohnt in der zweite Runde mit Hängen und Würgen sein Fünfsatzmatch gegen den Nobody Martin Damm gewonnen und tut so, als hätte er nur ein bißchen geübt

Wimbledon (dpa/taz) — Er hat es wieder getan. Ohne Rücksicht auf unsere Nerven hat er es wieder getan. Und wurde anschließend auch noch frech: „Das war genau das, was ich nach sechs Wochen Pause gebraucht habe. Jetzt ist meine Form sehr gut“, behauptete Boris Becker nach dem lange gefährdeten 4:6, 6:4, 6:4, 3:6, 6:3-Fünfsatzsieg gegen den tschechoslowakischen Nobody Martin Damm. Aus dreieinhalb Stunden willkommener Matchpraxis, 20 Assen und der Gewißheit, wieder einmal in höchster Not die Nerven behalten zu haben, zog Becker trotz der zehn Doppelfehler, 40 verschlagenen Returns und mindestens zwanzig Ausrutschern die Erkenntnis: „Das war ein sehr gutes Spiel. Ich weiß jetzt wieder, daß ich gutes Tennis spiele.“

Boris Becker verfügt über zwei im Tenniszirkus fast schon phänomenale Fähigkeiten: Wie kein anderer vermag er ein dramatisches Spiel in der entscheidenden Phase scheinbar mit purer Willenskraft herumzureißen. Wie kein anderer schafft er es aber auch, sich gerade gegen vermeintlich schwache Gegner ein ums andere Mal in derart mißliche Situationen zu bringen. Denn obwohl der Weltranglisten-116. Martin Damm am Donnerstag kaltschnäuzig und grundsolide aufspielte, kommt man nicht an der Tatsache vorbei, daß der 19jährige Prager im ganzen Jahr nicht ein einziges Mal die dritte Runde eines Turniers erreicht hat und noch nie in seinem Leben ein Fünfsatzmatch bestritten hatte.

Ob Becker nach dem Sieg über Damm tatsächlich über den Berg ist, wird sich am Samstag im Duell gegen den 26 Jahre alten Weltranglisten-73. Bryan Shelton (USA) erweisen. „Ich habe vor zwei Jahren gegen ihn in der zweiten Runde gewonnen. Seither hat er sich sehr verbessert, vor allem sein Aufschlag ist viel stärker geworden“, wußte Becker schon, was ihn erwartet. In Topform allerdings ist Shelton nicht. Seinen letzten Sieg vor dem Wimbledon- Start feierte er am 14. April, seither war für ihn jedes Mal in der ersten Runde Endstation. Aber was ist für Becker schon ein „leichter“ Gegner?

Auf Steffi Graf ist da schon mehr Verlaß. Die Titelverteidigerin schien in der zweite Runde von Wimbledon tatsächlich nur zu trainieren. Locker und leicht lederte die 23 Jahre Weltranglistenzweite am Donnerstag die auf Rang 59 postierte Marianne Werdel (USA) in knapp einer Dreiviertelstunde mit 6:1 und 6:1 ab, ohne sich auch nur ein wenig Achselnässe zu holen.

Im wahrsten Sinne mit Gebrüll stürmte Christian Saceanu in die dritte Runde. Der 23jährige Qualifikant, der in der Weltrangliste lediglich an Nummer 176 geführt wird, setzte sich in einem spannenden, fast dreieinhalb Stunden langen Duell gegen den 123 Plätze besser eingestuften Franzosen Cedric Pioline mit 4:6, 6:4, 0:6, 7:5, 7:5 durch. In der Schlußphase der Partie waren die Nerven des gebürtigen Rumänen heftigst in Mitleidenschaft gezogen. Nahezu jeden Punktgewinn quittierte er mit derart lauten Urschreien, daß auf den Plätzen nebenan die Spieler zusammenzuckten. Der Rechtshänder trifft nun auf den Schweizer Jakob Hlasek, der in einer Nervenschlacht den Paris-Finalisten Petr Korda (CSFR) mit 4:6, 3:6, 6:3, 7:6 (9:7), 16:14 aus dem Turnier warf.

Mit 21 Minuten „Nachsitzen“ schaffte die neunmalige Wimbledon- Gewinnerin Martina Navratilova (USA) den Einzug in Runde drei, in der sie auf die 18jährige Barbara Rittner (Leverkusen) trifft. Sie gewann die am Vortag wegen Dunkelheit nach dem zweiten Satz abgebrochene Begegnung gegen Kimberly Po (USA) mit 6:2, 3:6, 6:0. Dennoch zeigte sich, daß die „Wimbledon- Königin“ nicht unverwundbar ist. „Ich freue mich auf dieses Spiel, hoffentlich lassen sie uns auf den Centre Court“, sagte Barbara Rittner, die ganz unbeschwert aufspielen will: „Wenn ich verliere, ist das normal. Gewinne ich, ist es eine tolle Sache.“

Frauen: Malejewa-Fragniere (CH) — Kathy Rinaldi (USA) 4:6, 6:3, 6:4, Sabatini (Arg) — Demongeot (F) 6:2, 6:3, Zwerewa (GUS) — Martinez (Esp) 6:3, 5:7, 6:4; McNeil (USA) — Stubbs (Aus) 6:1, 6:3, Garrison (USA) — Harvey-Wild (USA) 6:2, 6:4; Sawamatsu (J) — Strnadova (CSFR) 6:3, 7:6 (7:5); de Swardt (Südafrika) — Keller (USA) 6:2, 5:7, 7:5, Navratilova (USA) — Po (USA) 6:2, 3:6, 6:0, Wiesner (A) — Kataryna Nowak (P) 6:0, 6:1. Capriati (USA) — Shriver (USA) 6:2, 6:4, Graf (Brühl) — Werdel (USA) 6:1, 6:1, Godridge (Australien) — Kohde-Kilsch (Saarlouis) 6:4, 7:5.

Männer: Wheaton (USA) — Martin (USA) 6:3, 6:3, 6:7 (3:7), 6:3, Leconte (F) — Karbacher (BRD) 7:5, 6:2, 7:6 (7:3), Hlasek (CH) — Korda (CSFR) 4:6, 3:6, 6:3, 7:6 (9:7), 16:14; Bates (GB) — J. Sanchez (Esp) 7:6 (7:4), 6:3, 6:4; Rostagno (USA) — Yzaga (Peru) 6:3, 6:3, 6:1; Shelton (USA) — Delaitre (F) 7:6 (7:5), 6:3, 6:3; Champion (F) — Lavalle (Mexiko) 7:6 (7:5), 6:3, 5:7, 7:5, Courier (USA) — Black (Simbabwe) 6:4, 6:1, 6:4; Ferreira (Südafrika) — Rensburg (Südafrika) 6:3, 6:3, 6:7 (3:7), 6:3, Saceanu (Neuss) — Pioline (F) 4:6, 6:4, 0:6, 7:5, 7:5.