KOMMENTAR
: Die Frauen werden selbst entscheiden!

■ Die Annahme des Gruppenantrags zum Paragraphen 219 - bewußtseinsbildender Pragmatismus

Wenn das Verfassungsgericht das Gesetz nicht wider Erwarten zu Fall bringt, dann ist dem Parlament gestern die Reform des Abtreibungsrechts in Deutschland geglückt.

Kein Grund zum Jubeln, finden viele Frauen und verweisen enttäuscht auf die Pferdefüße der neuen Paragraphen 218, 218a und 219. Abtreibung bleibt eben doch Sache des Strafrechts, die Zwangsberatung setzt die alte Bevormundung der Frauen fort, das Beratungsziel Lebensschutz steht der freien Entscheidung der Frau entgegen. Diese Kritik beschreibt unbestreitbare Tatsachen. Zudem wird sich das neue Abtreibungsrecht in vieler Hinsicht erst noch praktisch bewähren müssen. Das Nord- Süd-Gefälle in den alten Bundesländern verschwindet sicher nicht automatisch, die Abbruchmöglichkeiten und die Art der Beratung in den südlichen Bundesländern werden vorerst bei der alten Rechtswirklichkeit (oder dahinter) stehen bleiben. Noch schwieriger ist die Situation der Frauen in den neuen Ländern. Unvertraut mit den Tücken von Beratung und Drei-Tage-Frist, zudem ohne erprobte subversive Hilfssysteme, wird nach dem 1.1.1993 manche Frau in den neuen Ländern an der Rechtslage verzweifeln. Aber am Ende bleibt es dabei: sie selbst entscheidet über eine ungewollte Schwangerschaft. Nach 121 Jahren Abtreibungsverbot gilt dieses Recht erstmals für alle Frauen.

Deshalb, aus diesem einzigen Grund, kann ich die ablehnende oder schulterzuckende Haltung („Ein Kompromiß, mehr war eben nicht drin“) nur schwer nachvollziehen. Das neue Abtreibungsgesetz rechtfertigt sich nicht nur aus den Zwängen, die für sich schon ernst genug zu nehmen sind. Das alte Urteil aus Karlsruhe, der schlichte Tatbestand, daß ein Recht für die Frauen im patriarchalischen Machtgefüge durchgeboxt werden mußte — das erklärt die Kröten, die mit dieser Reform geschluckt werden müssen. Aber trotz Strafrecht, Zwangsberatung, Lebensschutz — über eine Abtreibung entscheidet künftig die Frau, niemand sonst.

Und das ist ein Durchbruch. Zugegeben: nicht einer von der unmittelbar-handgreiflichen Art. Aber wenn nicht mehr nur „unter uns“, sondern in der männerdominierten, von den Kirchen beeinflußten, anschauungspluralen Wirklichkeit als Norm gilt, daß erste und letzte Entscheidungsinstanz nur die betroffene Frau sein kann — das ist Emanzipation.

Das neue Gesetz konnte nur von einer übergreifenden Koalition durchgesetzt werden. Die Werthaltungen und Normen dieser Koalition gehen in einer wichtigen Frage auseinander, nämlich da, wo das Entscheidungsrecht der Frau tatsächlich in Konflikt mit anderen Rechten gerät. Ist das, was da geboren oder abgetrieben werden soll, ungeborenes oder werdendes Leben, ein beseeltes Wesen mit eigenen Rechten, bloß ein ganz und gar zur Frau gehöriger Teil ihres Körpers? Der argwöhnische Verdacht, der „Lebensschutz“ sei vor allem Vorwand, die Bevormundung der Frauen neu zu begründen und zu verlängern, wurde in der Bundestagsdebatte bestätigt und widerlegt. Natürlich zeichneten die harten Lebensschützer das schlichte Bild der unmündigen Frau, der im Zweifelsfall nur von oben und durch das Strafrecht beizukommen ist. Aber wie tief die zwanzigjährige Diskussion um den 218 in unsere Gesellschaft eingedrungen ist, wurde vor allem an den ChristdemokratInnen deutlich, die dem Gruppenantrag zugestimmt haben. Schwangerschaftsabbruch ist für Rita Süssmuth Tötung menschlichen Lebens, „im Grunde unmöglich“ sei es, eine gesetzliche Regelung zu finden. Aber der „Schutz des ungeborenen Lebens“, für sie wie für die übergroße Mehrheit aller RednerInnen ein hohes Rechtsgut, gehe nur mit und nicht gegen die Frau. Vor die Frage gestellt, ob die letzte Entscheidung bei der Frau oder — wie der Unionsantrag vorsieht — beim Arzt liegen soll, entscheidet sich die Katholikin Süssmuth und eine deutliche Mehrheit des Bundestages für die Frau.

Warum wollen die skeptischen KritikerInnen so wenig sehen, daß diese Abtreibungsreform die entscheidende Forderung der Frauenbewegung anerkennen mußte? Warum nicht die Gelegenheit beim Schopf ergreifen und unter Berufung auf Recht und Gesetz jetzt auch Frauen den Rücken stärken, die nach Herkunft, Bildung und Milieu unsicher und beeinflußbar durch Ärzte und Pfarrer sind: Du hast das Recht zu entscheiden? Und hat auf irgendeinem anderen Feld die deutsche Einheit zum Rechtsfortschritt geführt, wurde irgendwo sonst das Integrationsschema durchbrochen, nach dem der Osten sich dem Westen anzugleichen hat?

Vielleicht hat die Reserviertheit damit zu tun, daß die Frauenbewegung zu wenig bereit war, das Thema Lebensschutz ernst zu nehmen. Sie hat sich abhängen lassen, weil sie dieses Stichwort nur unter Ideologieverdacht gestellt hat und nicht darauf abklopfen wollte, ob sich darin eine veränderte Wirklichkeit widerspiegelt. Während Gen- und Reprotechnologien zu Recht als unzulässige Eingriffe in den Körper der Frau und menschliches Leben überhaupt abgelehnt werden, gilt als pathetischer Heuchler, wer den Fötus als Menschen von Anfang an bezeichnet. Der beliebte Hinweis, es könne keinen Konsens darüber geben, wann das menschliche Leben beginnt, stimmt zwar. Aber unbestreitbar ist auch, daß Menschen, auch Frauen, zum Fötus ein anderes soziales, emotionales und moralisches Verhältnis entwickeln, wenn ein schlagendes Herz, Kopf, Arme, Beine schon in den ersten Tagen der Existenz „sichtbar“ gemacht werden können. Veränderte Wirklichkeit: Wir wissen über den Menschen in der ersten Zeit seiner vorgeburtlichen Existenz mehr als vor zwanzig Jahren.

Ein gesellschaftlicher Kompromiß zum Abtreibungsrecht muß das Entscheidungsrecht der Frau auch denen begründen, die die Formel vom „Selbstbestimmungsrecht“ nicht akzeptieren können, weil sie Frau und Fötus im Rechtskonflikt sehen. Diesen Kompromiß gefunden zu haben, ist die eigentliche Leistung der Initiatorinnen des Gruppenantrags. Sie haben damit ein seltenes Beipiel für bewußtseinsbildenden Pragmatismus geliefert — möglich wohl nur, weil in dieser Frage Fraktionen und Parteien wenig galten. Tissy Bruns