Verkehr fordert 4.000 Krebstote

■ Bonn hält einen Bericht über das Gesundheitsrisiko durch den Autoverkehr zurück.

Verkehr fordert 4.000 Krebstote Bonn hält einen Bericht über das Gesundheitsrisiko durch den Autoverkehr zurück.

Von Dirk Wildt

Ende der 70er Jahre machten sich die Umweltminister der damaligen Bundesrepublik Sorgen um ein neues Phänomen. Von allen Arten der Krebserkrankung war seit 1955 der Lungenkrebs bei Männern am stärksten angestiegen. Und: Die lebensgefährliche Erkrankung trat wesentlich häufiger bei Stadtbewohnern auf als in ländlichen Gebieten.

Die Umweltminister vermuteten, daß die Luftverunreinigung eine wesentliche Ursache für die Krebserkrankungen sei. Im November 1983 beauftragte die Umweltministerkonferenz (UMK) dann den „Länderausschuß für Immissionsschutz“ (LAI), der aus Vertretern der Umweltministerien zusammengesetzt ist, Richtwerte über krebserzeugende Luftschadstoffe zu entwickeln. Mit ihrer Hilfe sollten Maßnahmen gegen die Luftverschmutzung ergriffen werden. Seit einem Jahr nun wird der fertige 100seitige Ausschußbericht unter Verschluß gehalten. Die taz konnte ihn lesen.

Darin kommt der Länderausschuß zwar zu dem Schluß, daß Luftschadstoffe als krebsauslösende Faktoren im Vergleich zum Rauchen, zur Ernährung und zu beruflicher Belastung nur einen geringen Anteil von zwei Prozent hätten. Dennoch bestehe „dringender Handlungsbedarf“, denn ein Anteil in dieser Größenordnung an der Gesamtzahl der Krebstodesfälle sei immer noch enorm groß. 1989 starben nach Zahlen des Bundesgesundheitsamtes in der Bundesrepublik und in der DDR über 200.000 Menschen den Krebstod. Mindestens 4.000 von ihnen müssen demnach infolge von Luftschadstoffen gestorben sein.

Eine dominierende Rolle spielten dabei die Auspuffabgase des Auto- und vor allem Lastwagenverkehrs, stellen die Autoren des Abschlußberichts fest. 41.200 Tonnen Blutkrebs erzeugendes Benzol und 69.000 Tonnen Dieselruß, der Lungenkrebs bewirkt, pusteten Pkw und Lkw 1989 in die Luft über der alten Bundesrepublik. Von beiden Schadstoffen produzierten Industrie und Haushalte nicht einmal ein Zehntel. Die Belastung durch krebserzeugende Luftschadstoffe sei in erster Linie „ein Problem der Ballungsgebiete“, in denen mehr als die Hälfte der Gesamtbevölkerung lebt.

Das geschätzte Krebsrisiko in den urbanen und industrialisierten Gebieten ist um mehr als fünfmal größer als auf dem Lande. Dies ist für den Länderausschuß nicht nur ein gesundheitliches Problem. Es stelle sich auch die Frage, „ob dieses Risikoungleichgewicht unter dem Gesichtspunkt der Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse rechtlich hinnehmbar ist“. Bei einer 70 Jahre langen Belastung mit krebserzeugenden Luftschadstoffen werden nach der Risikoabschätzung in Ballungsgebieten von 100.000 Bewohnern 810 an Krebs sterben — auf dem Lande 150. Für die Berliner soll es am schlimmsten sein: Von 100.000 Hauptstädtern würden im gleichen Zeitraum 970 durch die schlechte Luft an Krebs sterben.

Der LAI empfiehlt, daß Dieselrußpartikel im Jahresmittel nicht den Wert von 1,5 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft übersteigen sollten. Bei Benzol dürfe nicht mehr als 2,5 Mikrogramm anfallen. Würden diese beiden entscheidenden und andere Schadstoffe auf das vorgeschlagene Maß gesenkt, sei das Krebsrisiko in Ballungsgebieten zwar immer noch etwa doppelt so hoch wie auf dem Lande, eine völlige Aufhebung der Belastungsunterschiede sei „praktisch aber nicht realisierbar“.

Welche folgenschweren Einschnitte der Vorschlag des Länderausschusses vor allem für den Individualverkehr nach sich ziehen könnte, wollte das Bundesumweltministerium gegenüber der taz nicht abschätzen. Aus Bonn hieß es nur, daß Minister Töpfer (CDU) Konsequenzen ziehen und spätestens nach der Sommerpause dem Kabinett „Alarmwerte“ für Dieselruß und Benzol vorlegen werde. Nach Töpfers Vorschlag sollten kommunale Verkehrsbehörden selbständig Maßnahmen gegen den Verkehr ergreifen können, wenn die Dieselrußbelastung pro Kubikmeter Luft im Jahresmittel über 40 Mikrogramm betragen und bei Benzol mehr als zehn Mikrogramm gemessen würden. Bis 1993 soll der entsprechende Absatz im Bundesimmissionschutzgesetz in Kraft treten.

Warum die sogenannten „Eingreifwerte“ deutlich höher liegen als die Werte, die der Länderausschuß zur Begrenzung des Krebsrisikos vorschlägt, konnte Franz Emde, Sprecher des Bundesumweltministers, nicht aufklären. Selbst Kritiker würden die Töpfer-Werte für sehr niedrig halten, sagte der Sprecher.

Zumindest sind sie so niedrig, daß eine Stadt wie Berlin unter großen Handlungsdruck gerät. Der Stadtstaat hat dieses Jahr als erstes Bundesland eine „Studie zur ökologischen und stadtverträglichen Belastbarkeit der Berliner Innenstadt durch den Kfz-Verkehr“ vorgelegt. In der City, in der 1,1 Millionen Menschen wohnen, werden die Töpferschen Benzol- und Dieselruß-Alarmwerte in mehreren Straßen überschritten. Hinzu kommt, daß in 70 Prozent aller Hauptverkehrsstraßen der Hauptstadt die Stickoxidwerte über der Alarmschwelle liegen, die die EG festgelegt hat. Danach müßten bei einer Überschreitung von 135 Mikrogramm Stickoxid verkehrseinschränkende Maßnahmen ergriffen werden. Noch ist der EG-Alarmwert nicht in die bundesdeutschen Richtlinien aufgenommen worden.

Gemeinsam mit München erarbeitet die Hauptstadt das „Berlin- Münchner Modell“. Autos ohne Kat müßten dann möglicherweise ab 1994 und Lkw ohne Dieselrußfilter ab frühestens 1995 gebührenpflichtige Sondergenehmigungen beantragen, um in der Innenstadt fahren zu dürfen. Die Berliner Verkehrsverwaltung will nicht ausschließen, daß es vereinzelt auch zu Umleitungen und Straßensperrungen kommen könnte. Bis aber endlich aufgeatmet werden darf, wird noch viel Dreck inhaliert werden müssen.