SCHWULEN- UND LESBENFESTIVAL „EUROPRIDE“ IN LONDONS BROCKWELL PARK

„Wir sind in der Offensive“

London (taz) — „Es ist absoluter Wahnsinn“, sagt Kim. „Es stimmt einfach alles: die Leute, die Atmosphäre, sogar das Wetter.“ Kim ist ein etwa 40jähriger Transvestit in roter Lockenperücke, engem, roten Abendkleid und hochhackigen Schuhen. Er ist einer der Organisatoren von „Europride“, dem ersten europäischen Schwulen- und Lesbenfestival, das am 12. Juni mit der offiziellen Gründung von Europride begann.

Höhepunkt war der vergangene Samstag: 40.000 Menschen demonstrierten in der Londoner Innenstadt und wurden danach in Hunderten von Bussen zum Brockwell Park im Südlondoner Stadtteil Brixton gefahren. Es sind mindestens 50.000, die sich am Nachmittag dort versammelt haben. Überall auf dem riesigen Gelände finden Aktivitäten statt. Am oberen Ende ist ein Rechteck mit Seilen abgetrennt, in dem sich zwei Ringer im Schlamm wälzen. Das Schauspiel lockt auch eine Handvoll Spaziergänger an, die den Park jedoch fluchtartig verlassen, als ein spindeldürrer älterer Mann im schwarzen Minirock vom benachbarten Gesundheitszelt herübergelaufen kommt und ihnen lachend ein paar Kondome in die Hand drückt. Weiter unten im Park sind 400 Stände aufgebaut, an denen von Ohrringen über T-Shirts und Unterhosen bis hin zu Hamburgern und makrobiotischem Essen alles angeboten wird. Der Pressesprecher des Organisationskomitees, David Peschek, liegt erschöpft im Gras neben dem Verwaltungszelt. „Wir machen seit 20 Jahren dieses Schwulen- und Lesbenfestival in Großbritannien“, sagt er. „Aber das ist das erste europaweite Ereignis dieser Art. Es sind sogar Leute aus Kanada, Mexiko, den USA und Australien hier.“ Warum Europride? „Natürlich hatten wir das Jahr 1992 dabei im Hinterkopf, die fallenden Grenzen in Europa“, sagt Peschek. „Aber es ist mehr: unsere Stärke liegt ja gerade in dem Gemeinschaftsgefühl.“ Er sagt, das Festival sei kein politisches Ereignis, schränkt aber gleich ein: „Wenn so viele Schwule und Lesben zusammenkommen, ist das natürlich auch eine politische Aussage. Das lenkt die Aufmerksamkeit auf die Länder, in denen wir nach wie vor unfair behandelt werden. In Irland ist Homosexualität laut Gesetz von 1861 strafbar. Und Großbritannien hat zwar vor genau 25 Jahren die Anti-Schwulen-Gesetze gelockert, aber wir haben neben Bulgarien die höchste Altersbeschränkung in Europa, nämlich 21.“

Die britische Schwulenbewegung hat in letzter Zeit einige Erfolge erringen können. So lud Premierminister John Major den Schauspieler Sir Ian McKellen von „Stonewall“ zum Tee ein und diskutierte mit ihm über eine Gesetzesreform. Das Schwulenverbot in der britischen Armee wurde in der vergangenen Woche aufgehoben. Doch Stonewall fordert auch Kritik heraus. Filmregisseur Derek Jarman wirft der Organisation vor, daß sie weder repräsentativ noch demokratisch sei: „Das ist das schwule Establishment in Verbindung mit dem Theater, dem reaktionärsten Bereich in Großbritannien. Das Coming-out von McKellen und anderen war wunderbar, aber dann beschlossen sie, die Kontrolle der Schwulenpolitik zu übernehmen, und das ist eine ganz andere Sache. Viele Menschen haben bisher nämlich in diesem Bereich auf sehr demokratische Art gearbeitet.“ Und Keith Alcorn von Out Rage tut Stonewall als „Metropolen-Phänomen von Medienköniginnen“ ab. Out Rage ist die größte Organisation, die hinter den „New Queer Politics“ steht.

Bis vor kurzem war „Queer“ ein Schimpfwort für Schwule. Laut Wörterbuch bedeutet es „sonderbar, seltsam, wunderlich, schnurrig“, aber auch „krank, unwohl“. Erst langsam setzte sich der Begriff „gay“ durch. „Gay ist bourgeois und langweilig“, sagt Alcorn. Linda Semple, Gründerin von „Feministinnen gegen Zensur“, stimmt ihm zu. Sie sagt, daß die „queer politics“ zum ersten Mal Schwule und Lesben zusammengebracht haben, weil das Wort „gay“ nur auf Schwule angewendet wird. Doch David Starkey von Torche, der konservativen Organisation für homosexuelle Gleichberechtigung, ist damit nicht einverstanden. „Der Versuch, Lesben in die Gesetzesreform miteinzubeziehen, ist grotesk“, sagt er. „Lesben sind ja gesetzlich nicht mal anerkannt.“

Doch am Samstag spielen diese Differenzen keine Rolle. Gays, Queers, Transvestiten und Bisexuelle feiern ein rauschendes Fest im Brockwell Park. Zwei Dutzend Polizisten sitzen im Schatten unter Bäumen und spielen Karten. Auf der Bühne spielen die „Well Oiled Sisters“, im Kabarett-Zelt nebenan zieht Lily Savage eine Show mit Witz und Gossenhumor ab. Am Rand der Wiese ist ein Rummel aufgebaut. „Wir sind viele“, sagt ein junger Mann in schwarzer Ledermontur, der sich einen großen Teddybären — ebenfalls in schwarzer Lederkleidung und mit Sonnenbrille — auf den Rücken geschnallt hat und in die Geisterbahn steigt. „Und wir sind in der Offensive.“ Und David Peschek sagt: „Die Stimmung ist einmalig. Berlin kann sich im nächsten Jahr auf das zweite Europride freuen.“ Ralf Sotscheck