: Kann ich helfen?!
Mittelstand in geistiger Umnachtung ■ Von Gabriele Goettle
Ich bin nicht bereit, Ihnen das alles hier in die Hände zu geben, ich will meine Kunden ordentlich bedienen, und eins möchte ich gleich zurechtrücken, ich bin kein Kunde, ich bin der Begutachter, die Eigentümerin. Auch mein Bruder Josef und auch sein Kind, das an Polio gestorben ist, sind Miteigentümer. Es geht anders nicht. Dazu hat man sich eingerichtet, und es ist gut so!
Sehnse mal hier Frollein, Sie heißen doch so, Sie müssen das der Dame nach Hause tragen, das ist ein wichtiger Auftrag!
So. Wer wann aufsteht... das ist alles Quatsch! Gewöhnlich mache ich das überhaupt nicht, daß ich nach dem Klingeln noch liegen bleibe. Ich kann das gar nicht. So bin ich nun mal, es drängt mich hinaus ins Leben. Ich bin ja durch eine vierzehnjährige Schule gegangen, da habe ich, das können Sie sich denken, auch Klassen gehabt, die ich nicht konnte. Aber das ist es, was mir fehlt, was vielen fehlt, was im allgemeinen fehlt, die Kenntnis insgesamt gesehen.
Ich hätte ja zu Ihnen gesagt, gut, es braucht nicht alles hundertprozentig zu sein, aber alles, was Lesen, Schreiben, Bedienen der Kunden möglich macht, das sollte schon da sein, und damit ist man ja beileibe noch nicht fertig. Mein Mann hat mit seinem Sohn gesprochen. Wir müssen alles immer so machen, wie es sich schickt, können nicht fragen, was bringt es ein fürs Geschäft, nee...
Mein Mann hat gesagt, ich soll es auch meinen Eltern zeigen, das ganze Material, das ich eingekauft habe, damit es begutachtet werden kann. Ich mache es aber so, wie ich es denke, und hoffe, daß ich das denke, was ich brauche, ja!
Man muß sich ab und zu sagen, die Zeit ist auch nicht so ganz voll und glücklich für mich, denn...
Jeder hat so seine Art. Von mir kann ich momentan gar nicht so genau sagen, ob ich sie auf dem Wasser abschwingen werde, abrauschen — oder wie man sagt — um zu denen hinzukommen, zu den... es muß ja mal Schluß gemacht werden mit dem Elend.
Sie haben bestimmt schon manch einen gehört, der hat Ihnen gesagt, so oder so sind die Dinge, punktum, jetzt ist wieder so einer da gewesen, aus Straßburg, hat alles gesagt. Aber ich will davon nichts hören!
Ich habe soundsoviele Angestellte und soundsoviele Sachen, doch wo sind die Sachen? Wo sind sie? Die von zu Hause meine ich? X Untertassen waren da, die habe ich angeschafft, Tuch mit Kanne, das vor den Hals gebunden wurde, gab's auch. Besteck, ein vierundzwanzigteiliges Porzellanservice. Das haben sie alles abgeschafft, schlau genug sind sie ja! Aber mit mir nicht!! Und da war ja dann auch die Mutter bei ihm und fragte, weshalb er den Mund nicht aufkriegt. Daß es so ausgehen wird, damit hätte keiner gerechnet, im Frühling 1912. Und wer weiß, was noch gekommen wäre, aber andrerseits, er kam nicht zurück vom Felde.
Aber ich verkenne jetzt, daß es ja auch gute Seiten gab, na ja... das sagt man so dahin. Ich werde jetzt fortfahren mit dem Auszeichnen, da vorne im Fenster, die sind schon alle fertig ... oh, verflucht, jetzt habe ich mich naß gemacht, so weit isses nun schon mit mir gekommen, na, macht nix, wird schon wieder trocknen. Wirklich, besser hätte es auch Vater nicht machen können, die Auslagen im Schaufenster. Das sind Perlen.
Ich bin ja ein Mensch, von dem man sagen kann, ich kann nebenbei auch noch kochen. Bei mir muß alles tiptop sein. Wenn's nicht stimmt, fangen wir nochmal von vorne an. Tue jede Sache so gut... wie... na, wie geht das weiter... so gut wie... na jedenfalls, wenn's dann das Falsche ist, dann tu's wenigstens richtig, oder isses das auch noch nicht?
Offen und ehrlich gesagt, ich kann keinen Hund vor die Tür jagen, andrerseits, wir müssen schon aufpassen, wen wir reinlassen. Das ganze Tuch hier, das sind ja Werte, die Kasse, das Werkzeug ... Ich mache die Buchführung, alles, ich habe die ganze Verantwortung selbst zu tragen.
Und du mein Junge, wärst du nicht an Polio gestorben, das alles wäre mal deins gewesen. Hier, das Speisezimmer, da haben wir immer gespeist, die Eltern und ich, Essen, Trinken, Abschneiden, das alles ... das muß so sein. Hier setz dich mein Kind, hör nicht, was dein Vater sagt, von mir bekommst du alles, dein Vater kriegt nur sein Gehalt.
Schließen wir noch nicht zu, heute? Ah, da oben muß noch gearbeitet werden. Überstunden! Und daß Sie mir ja alles ordentlich einschlagen in Seidenpapier, Frollein! Da muß man immer schimpfen ... aufs Personal. Ich sag immer, mit einem Griff muß man alles parat haben, messen, schneiden, falten, aber das hier ist alles ein Murks, unsagbar! Dann haben sie auch noch den Schnitt verloren, und die Aufschrift ist auch nicht bekannt, nehme ich mal an, was Frolleinchen? Ja, was glauben Sie denn, wo Sie hier sind?! Wie wollen Sie denn jetzt die Kundin zufriedenstellen?
Ich war früher selbständig, das würde mir heute keiner mehr glauben, so wie ich hier langliege. Daß das nicht erhalten bleibt, sehe ich jetzt, wo Teil für Teil von mir verlorengeht. Püppchen, komm her, daß ich dich wasche, damit du sauber bist ... trallalitrallala ... und auch die ganze Plätterei muß ich ja noch beaufsichtigen, die darf man nicht aus den Augen lassen.
Auf das Gummi hab ich mich nun gesetzt, ich weiß ja auch nicht wozu, es ist ein Geschenk meiner Schwester, aber das bekommt sie wieder! Wenn man von woanders her ist, dann kann es sein, man hat nichts weiter an vielleicht, und es muß auch gehn. Anderswo geht das auch. Aber hier muß jeder von oben bis unten ... und was das andere betrifft, so sagte ich ja schon, ich kann das einfach nicht, einen so süßen kleinen Hals umdrehn.
Ich muß mich nochmal korrigieren, der Mensch kann alles! Ich habe mich angeschickt, Briefmarken zu holen. Wofür? Ich weiß es auch nicht, ich kenne sowas nicht mehr, scheint es. Aber das geht keinen Menschen was an, was bei uns ausgebürstet wird und was nicht. Ich will und kann darüber keine Auskunft geben. Sonst hätte ich ja gesagt, bitte, das sind schicke Stücke (lacht falsch), ein bißchen angestaubt zwar, aber immer noch in Mode, die sind quasi vorige Woche erst gekommen (lacht).
Wer bist du denn, Täubchen? Komm mal her, und gib der Chefin einen Kuß. Ach, das hat ja alles keinen Zweck!
Jedenfalls, was ich heute morgen fand, das sah seltsam aus. Ich weiß es auch nicht, ob es Frauen waren, ob es keine Frauen waren. Wir konnten es nicht feststellen, und ich sagte zu ihnen: Liebe Kundinnen, wir können nichts für sie tun, leider. Wer etwas kauft, ist bei mir Kunde, aber, da bin ich ganz sicher, die hätten nicht bezahlen können, da komplimentiert man solche Herrschaften doch lieber gleich hinaus.
Alles ausbürsten, meine Damen, täglich, das ist wichtig, das ganze Tuch, auch die Ballen oben, gerade die! Es liegt so viel Staub in der Luft, seit neuestem. Überhaupt steht es nicht zum Besten. Man muß sich ernste Sorgen machen. Ich werfe einen Blick in die Zeitung und sage: Ja bist du denn wahnsinnig, so ruhig dazuliegen, mit dem bißchen Kleingeld, das wir mit den Kleidungsstücken verdienen. Sollen wir denn bald wieder hinten im Lagerraum Uniformen nähen?
Man muß sich eben anpasssen. Und das mache ich mein ganzes Leben. Aber schau mal, ich liege hier flach, kann mich nicht rühren. Wenn man mich hochhält, hier am Hintern, siehst du, wie weit es mit mir gekommen ist? Aber um eins bitte ich dich sehr. Laß nichts darüber verlauten, daß ich momentan nicht in der Lage bin, das zu nähen, was bestellt worden ist. Die Kunden können warten (lacht).
Was sind denn das für Originale hier, die fliegenden Blätter? Sage ich nicht immer, man soll alles sofort einordnen! Ich verlange von den jungen Damen gutes Benehmen, Ordentlichkeit, Sauberkeit. Mein Vater hat immer gesagt: Die Aufzucht der jungen Weibchen ist das Schwierigste. Also, mich kriegt keiner so schnell unter die Erde!
Gehn Sie doch bitte mal und holen etwas für den Mittag. Sie fahren zwei Stationen mit der Tram, gehn zum Fleischer und können gleich gegenüber das Gemüse abholen. Hier gebe ich Ihnen das Geld mit. Wirklich, das Mädchen ist so schmutzig, als wäre es meins. Übrigens, bei dieser Gelegenheit, wo ist denn unser Kind, Herbert? (Streng) Hast du es fortgetan? Nicht, daß es mir fehlt, aber wo ist es?
Keine Antwort ist auch eine Antwort! Aber zuerst das Geschäft! Hier, komm mal her, hier ist die Litze für das Kleid von Frau Riedel, aber erst müssen die Dingens drauf. Sie braucht es für den Ball nächsten Monat.
Au, au! (weint fast vor Schmerz) meine Hände, ohhh ... (mit normaler Stimme) da gibt sich die Psyche aber mächtig Mühe, sonst geht sie vor die Hunde!
Erzählt mal, Kinder, was macht das Leben? Ganz leise müßt ihr sein, an meinem Krankenbett. Ich liege hier, mitten in Deutschland, da war nichts mehr zu machen. Aber drinnen, da denkt's und denkt's.
Zum Beispiel weiß ich nicht, wo die Ringe sind. Die Ringe von meinem Mann und mir. Wo sind die? Scheißringe! Was sollen die mir helfen? Komm her, Täubchen du mußt dich auf mich drauf setzen, damit ich was spüre. Vielleicht gibt's ja doch noch ein Heilmittel für mich? Mal sehn. Andererseits, wenn es nicht mehr geht, dann muß man es offen und ehrlich zugeben. Aber ich sag Ihnen was, ich bin krank vom Nichtstun. Ich bin weder angeschossen worden noch von der Tram angefahen, nein, ich habe nur Heimweh.
Zumachen! Fenster zu, aber schnell! Es zieht ja alle Schnitte vom Tisch bei dem Durchzug. Die Bürsten gehören dort ins Kästchen, Borsten nach oben, wie oft soll ich das noch wiederholen, hört mir von den Damen eigentlich überhaupt jemand zu? Ich werde Sie alle entlassen, da können Sie sicher sein, wenn mir das nicht aufhört! Das Wasser muß kochend sein.
Dem ersten Doktor, der kam, sagte ich: Sehn Sie, ich bin immer so müde, es fehlt mir an Lebenslust. Ich brauche Milcheis, sagte er, jeden Tag eine kleine Portion, auch im Winter. Nee, sowas kann ich nicht glauben. Der zweite Doktor sagte: Machen Sie eine Kur an der See. Ich war ganze zwei Wochen in Saßnitz, aber heute liege ich trotzdem da und kann kein Glied rühren. Das macht mich nervös, sowas. Denn, was glauben Sie denn, wie man sich fühlt, wenn man nicht mehr zu Hause ist? Na, überlegen Sie mal! Wenn andere Leute sich an Ihre Stelle gesetzt haben. Mit mir nicht!
Täubchen! Machen wir eine Suppe zusammen, und dann wird der Finger genommen und rein in den Kochtopf. Meine Suppe, die kostet nur Pfennige, und da ist alles drin! Und Fleisch haben wir auch noch in der Kammer. Bevor andere es sich holen, nehmen wir es doch lieber schnell und drehn es durch den Wolf. Weiter hinten, im Gartenhäuschen, da habe ich zehn weiße Kaninchen. Die schmeißen wir fort. Wozu diese Belastung? Und das Fell ist aus der Mode, wie so manch anderes auch ... Überhaupt, ich habe es nicht gern, wenn alles kreuz und quer durcheinander geht, kleidungsmäßig. Das kann vielleicht auch als schön erachtet werden, aber sowas kann jeder, dazu gehört keine Kunst.
Ich könnte dir den Schädel einschlagen, vor Wut über deine Zudringlichkeit. Ich brauche meine Ruhe. Ich kann mich nicht mittags nach dem Essen auf den Bauch legen für dich, das kann ich nicht, und ich will es nicht. Deine Schäferstündchen, die habe ich schon gefressen. Mir ist es lieber, wenn wir überhaupt damit aufhören. Über diesen Streitereien kann ja jedesmal die ganze Nacht vergehen und morgens komme ich unausgeschlafen ins Geschäft. So geht das nicht weiter, mein Lieber! Und schon gar nicht jetzt,
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wo ich meine Beine überhaupt nicht mehr bewegen kann, wo ich wund bin und müde.
Heute ist sie dagewesen, die Aufwärterin, Frau Felix, nehme ich an, und ich sage zu ihr: Himmel, das kann doch nicht sein, daß hier schon wieder alles verschmutzt ist. Mir wäre es ja lieber, wenn wir den Fußboden überhaupt nicht mehr bohnern und glänzern, aber das geht ja nicht, wegen den Kunden, nur, wer kümmert sich um mich? So verlassen war ich noch nie in meinem Leben.
Liebe Frau Baronin, wir brauchen Schutz, wir Alten, es geht doch kein Mensch hierher, freiwillig. Man hat uns verschleppt, beraubt, entmündigt. Gehn Sie bitte nicht wieder weg, Frau Baronin von Pütnitz, alleine weiß ich mir ja gar nicht mehr zu helfen. Meine ältesten Kundinnen lassen mich im Stich, wenn ich nicht augenblicklich wieder meine Geschäfte führe. Ich will ja gerne alles tun ...
Der Herr Doktor, der war ja auch eingetreten in die Partei, bedenken Sie mal, 1933, nur wegen der Kundschaft. Ist man Geschäftsmann, dann heißt es Opfer bringen, den letzten beißen die Hunde, wie es so schön heißt. Es wären ja Vorsichtsmaßregeln gekommen, unter Aufsicht zu leben, das ist nicht schön, ich sehe hier ja täglich, wie es Leuten geht, die nicht mitmachen. Eine, die bei mir im Laden war, wollte auch nicht mitmachen, aber das ging nicht lange gut, die hat man schnell abgeholt. Ich konnte ja dagegen gar nichts tun, man war ja machtlos.
Früher dachte ich immer, ich kann ja nicht das Bett aufsuchen, dann wenn es mir paßt, sowas geht ja nicht. Jetzt liege ich hier. Ob es mir paßt oder nicht. Was sie hier mit mir machen, und was sie tun, wenn wir nicht bei uns sind, ist einfach schrecklich!
Frolleinchen, machen Sie mir das bitte ordentlich, das Einwickeln und den weiten Weg, die Kundin ist Schauspielerin am Hansa-Theater und braucht das Kostüm so schnell als möglich. Und du Mädchen, mach mal ein bißchen Ordnung hier, so kannst du auch dein Können anbringen.
Da sehn Sie es doch, bitte, was andere Leute haben, das habe ich auch. Ich habe einen Eigentumsbegriff, und der sagt mir, mein Eigentum ist unteilbar, ich bitte, mich aus dem Streit zu lassen über derartige Fragen. Andrerseits, wir können nicht damit rechnen, daß wir unser schönes Geld behalten können. Zwar sind wir sehr sparsam, aber damit hat noch keiner sich am eigenen Zopf aus dem Sumpf gezogen. Es gibt ein Aussterben in unserem Gewerbe, und überhaupt, unter den Ladenbesitzern. Und es ist überall dasselbe: tüchtige Anfänge, sattsamer Erfolg, und dann ist durch äußere Umstände einiges kaputtgegangen. Aber da muß man eben mit rechnen, daß alles schief geht, und man am Ende kein Wort mehr zu sagen hat.
Andächtig habe ich an mein späteres Kapital gedacht, als ich noch zur Schule gegangen bin. Das hat mich mit Lebenslust erfüllt, der Gedanke, einmal Chefin zu sein über meine Angestelllten. Es gibt ja auch Leute, die sich jahrelang damit abmühen, gut zu heiraten, aber das hatte ich gar nicht nötig. Mein Mann hat die gute Partie gemacht, er wurde bei mir angestellt, und als erstes sagte ich ihm: Mein Lieber, ich kleide dich ein mit dem Nötigsten, aber alles in Kurzform, damit es nicht zu teuer wird. Ich muß das alles festhalten, bevor mein Leben zu Ende ist.
Heute frage ich mich, was sind das für arme Zöpfchen da auf meinem Kopf, wer hat die geflochten? Man sagt nicht zu mir, daß ich morgen vielleicht schon raus darf. Das bin ich nicht, das bin nicht ich, was Sie hier sehen, das ist eine fremde Sache, die hier diese Fehler hat, und doch nichts dafür kann.
Und in der heutigen Zeit muß man ja leider mit allem zufrieden sein, was kommt. Die angestellten Damen sind nicht die Tüchtigsten. Dafür habe ich aber einen neuen Angestellten, der ist groß, sauber und sachlich. Jedes Plakat, das kommt, hängt der sofort auf, er macht seinen eleganten Diener vor der Kundschaft und dekoriert mit viel Geschick und Geschmack. Ich muß immer ein freundliches Wort für ihn übrig haben, so viel Freude macht er mir.
Die Näherinnen hingegen taugen nichts. Es ist ihnen vollkommen gleichgültig, was das letzten Endes bedeutet: Sitzen oder Nichtsitzen. Na, ich kann Ihnen sagen! Sie müssen Ihre ganze Überredungskunst ausbreiten, müssen Drohungen einsetzen, und was es sonst nochgibt, nur um anständige Ergebnisse zu erzielen ...
Aber was geht mich das alles heute noch an? Wer klein ist, wie ich, und hat weiter keine Unkosten, der könnte sich zwar ab und zu ein neues Teil leisten, zwischendurch mal eine leichte Sommerjacke, einen Seidenschal, andrerseits, es fehlt ja an Gelegenheiten, das alles zu tragen, da werde ich doch lieber an die alte Jacke moderne, neue Knöpfe annähen.
Was ich brauche, wirklich brauche, das ist ein Zimmer voller Flieder, weiß und altrosa, für den Fall meines Todes. Wenn ich etwas zu sagen hätte, ach...! Aber die hängen ja hier so an ihren Gewohnheiten und Vorurteilen. Früher hätte ich gesagt: Das und das und das ..., bezahlen kann ich es ja, deshalb muß es so sein, wie ich es will, wenn ich es bezahle. Komm, Täubchen, klopf mir mal das Kissen auf, es klebt mir fest im Genick ... wo bist du denn, verdammtes Dreckstück!
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Frau Kuhn, 1888 geboren, wurde 1978 wegen zunehmender Verwahrlosung und nach einem Sturz in ihrer Wohnung ins Altenpflegeheim eingewiesen. Bis 1980 bewohnte sie ein Einzelzimmer; nachdem ihr privates Vermögen aufgebraucht war, wurde sie in ein Dreibettzimmer verlegt. 1982, zum Zeitpunkt dieser nächtlichen Rede, war sie fast blind, vollkommen bettlägerig und auf 37 Kilo abgemagert, weil niemand sich die Zeit zu ausreichender Fütterung nahm. 1983 im Frühling starb sie, ohne jemals besucht worden zu sein.
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