: Der Gipfel fand nicht in Lissabon statt
Die konkreten Probleme der EG-Bewohner blieben bei dem EG-Gipfel außen vor/ Politiker und Journalisten werden in eine Scheinwelt versetzt/ Zahlreiche Gegenkundgebungen/ Von der Kleinheit von Demonstranten auf Bildschirmen ■ Aus Lissabon Antje Bauer
Vier kleine, bunte Straßenbahnen standen in der Menge eingekeilt. Die Fahrer waren ausgestiegen, die Passagiere hingen aus den offenen Fenstern und warteten geduldig auf die Weiterfahrt. Ein paar Meter weiter rochen Haufen fauler Tomaten und Kartoffeln, die auf die Straße gekippt worden waren, nach Vergorenem. „Für europäische Löhne“, forderte ein rotes Transparent. Es war die neunte Demonstration, die an diesem Freitag nur einen Steinwurf vom „Kulturzentrum von Belem“ entfernt stattfand, in dem die europäischen Regierungschefs tagten.
Wo in anderen Ländern Demonstrationen aufgrund der Anwesenheit so vieler Regierungschefs verboten worden wären oder zumindest der Kundgebungsort einer militärischen Belagerung geglichen hätte, machte Portugal seinem Ruf eines friedlichen Landes Ehre: Obwohl das Tagungszentrum der EG in Sichtweite lag, war es zwar abgesperrt worden, doch keine Panzerwagen erzeugten beklommene Gefühle, und die Absperrgitter wurden nur durch schlichte Polizisten vor der Menge geschützt.
Eingeleitet hatten die Demonstrationsreihe morgens Arbeiter von Rüstungsfabriken, gefolgt von Angestellten des öffentlichen Dienstes. Das faule Obst war eine Hinterlassenschaft erboster Bauern. Jetzt hatten sich Tausende Textilarbeiter aus ganz Portugal vor den Absperrgittern eingefunden, um gegen ein neues Streikgesetz der Regierung von Cavaco Silva und gegen die EG zu protestieren. „Die EG-Politik macht unsere Firmen kaputt“, klagte ein junge Textilarbeiterin aus Porto. „Ständig müssen Betriebe schließen, und wir kriegen unsere Löhne zum Teil mit neun Monaten Verspätung.“ 48.000 Escudos verdient sie, etwa 600 DM, bei Preisen, die sich zunehmend europäischem Niveau annähern. „Cavaco erzeugt im Ausland ein Bild von Portugal, das nichts mit uns gemein hat“, warf ein Arbeiter aus dem nördlichen Guimaraes empört ein, „kein Wunder, daß sie uns dann die Gelder kürzen wollen.“ Die kommunistische Gewerkschaft CGTP, die zu der Demonstration aufgerufen hatte, hält sich offiziell mit Stellungnahmen gegen Maastricht zurück — es wäre zu unpopulär, gegen den Mythos Europa anrennen zu wollen. In den Tagungsort des Gipfels drang die Abfolge von Protesten nur in Form kleiner Bilder auf Videoschirmen, die während der Nachrichten hereinflimmerten. Das „Kulturzentrum von Belem“, äußerlich eine unübersichtliche Burg babylonischer Ausmaße, wurde an hochsymbolischem Ort, just gegenüber dem Kloster des Jeronymos erbaut, in dem die portugiesischen Nationalhelden, der Dichter Camoes und Vasco da Gama, begraben liegen. Gegenüber dem Monument der Geschichte sollte dies ein Monument der Moderne sein.
Das moderne Portugal von Cavaco Silva präsentierte sich als eine Verflechtung von Räumen, deren größter Teil den 1.500 angereisten Journalisten vorbehalten war. In einem riesigen Raum wimmelten vorwiegend schwarzgekleidete Medienvertreter mit wichtiger Miene und ausgeprägter Neigung zu Schmeicheleien an die Adresse ausgesuchter politischer Persönlichkeiten. Die portugiesische EG-Präsidentschaft hatte sich nicht lumpen lassen: Nicht nur verfügte jeder angereiste Journalist über ein kostenfreies Telefon an seinem Arbeitsplatz, darüber hinaus wurden des Mittags üppige Büffets angerichtet. Zum Empfang war den Medienvertretern eine Einkaufstüte überreicht worden, die ein Badehandtuch, einen Porzellanaschenbecher, einen Gürtel sowie einige portugalfreundliche Informationen enthielt; am Freitag abend wurde zu einem Abendessen in ein mitten in einem subtropischen Gewächshaus gelegenes Restaurant geladen.
So klein die Bilder von den Demonstranten auf den Videos des abgeschirmten Bunkers erschienen, so wenig wurden ihre Probleme wahrgenommen. Es galt als kleinlich, wie der spanische Premierminister Felipe Gonzalez auf der Festsetzung des Strukturfonds beharrte, und der dänische Ministerpräsident Poul Schlüter wurde behandelt, als hätte er ein krankes Kind zu Hause. Das Interesse der italienischen Journalisten an der Lösung der Milchquotenregelung wurde von den Kollegen belächelt. Diese geräumigen Hallen, diese Terrassen mit Blick auf den Tajo waren in der großen Welt angesiedelt, nicht an einem spezifischen Ort, und schon gar nicht in diesem Lissabon, in dem direkt hinter dem Kulturzentrum, durch Sichtblenden vor Blicken geschützt, kleine Häuser mit Mosaikfassaden verfallen und die Angst vor der Arbeitslosigkeit an den Bewohnern nagt.
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