Ein Mann, der das Volk ersetzen sollte

■ Die fundamentalistische Gefahr wurde gebannt — vorübergehend wenigstens

Nicht jeder Kopf kann ausgewechselt werden. Nicht jeder Politiker ist ersetzbar. Die tödlichen Schüsse auf Mohamed Boudiaf könnten Algeriens herrschende Klasse, die militärische Nomenklatura, zu Reaktionen provozieren, die das Land dem Bürgerkrieg einen gewaltigen Schritt näher bringen. Mag sein, daß die in den Untergrund abgedrängte islamistische Opposition dies tatsächlich will. Daß sie angesichts der harten Repression überhaupt noch eine gemeinsame Führung hat, die militärisch agierende Gruppen kontrolliert, darf füglich bezweifelt werden. Ausschließen läßt sich bei der derzeitigen Informationslage auch nicht, daß Boudiaf Opfer ganz anderer Kreise geworden ist.

Jedenfalls wird sich die regierende Junta schwer tun, Ersatz für Boudiaf zu finden. Nachdem im vergangenen Dezember die „Islamische Heilsfront“ (FIS) aus dem ersten Wahlgang als fulminanter Sieger hervorging, stoppte das Regime den Demokratisierungsprozeß. Der zweite Wahlgang wurde abgesagt. Präsident Chadli mußte unter dem Druck der Militärs seinen Hut nehmen. Ein „Hoher Staatsrat“ übernahm nun die politischen Geschäfte. Die FIS wurde schlicht für aufgelöst erklärt. Am liebsten hätten sich die Regierenden wohl — frei nach Brecht — „ein neues Volk gewählt“. Da das nicht ging, holten sie Mohamed Boudiaf aus dem marokkanischen Exil.

Boudiaf, Mitgründer der „Nationalen Befreiungsfront“ (FLN), die 1962 aus dem Kampf gegen die französische Kolonialherrschaft siegreich hervorging und fast drei Jahrzehnte lang selbstherrlich als einzige zugelassene Partei die Politik des Landes diktierte, war schon in den 60er Jahren ins politische Exil verbannt worden. Gerade dies war wohl der ausschlaggebende Grund dafür, daß ihn die Miltärs auf den Präsidentensessel hievten. Angesichts der dramatischen Lage des Landes und der weit verbreiteten, allgegenwärtigen Korruption ließ sich nämlich kaum jemand finden, der dem Volk in diesen schwierigen Zeiten als sein oberster Repräsentant hätte präsentiert werden können. Boudiaf hatte das Format eines Landesvaters. Er war Kämpfer der ersten Stunde, eine historische Figur, vor allem aber war er über jeden Verdacht der Korruption erhaben. Zu lange schon war er im Exil gewesen, als er von der verhaßten Pfründewirtschaft noch hätte profitieren können.

Kaum an der Spitze des Staates, überraschte Boudiaf mit einem eigenen politischen Projekt. Er berief einen 60köpfigen Konsultativrat ein, der sich im wesentlichen aus Anwälten, Schriftstellern, Frauenrechtlerinnen, Geschäftsmännern, Professoren zusammensetzte — dem Teil der nationalen Elite also, die bereit war, der Macht als Feigenblatt zu dienen, wie Regierungsgegner immer verärgert monierten. Der Präsident wolle nach seinen 26 Jahren Exil, so verlautbarte er selbst, die Probleme des Landes kennenlernen, und habe deshalb ein kompetentes Beratungsgremium zusammengestellt. Die Peinlichkeit, daß dieser kooptierte, letztlich machtlose, weil nur beratende Konsultativrat die Büros der gewählten, aber entmachteten Abgeordneten einnahm, wurde mit dem Mangel an verfügbaren Büroräumen begründet. Auch Boudiaf wußte wohl, daß dieser Konsultativrat kein Ersatz für Parlament und Parteien sein konnte, die in den zwei Jahren der Öffnung die Politik wieder zum Thema der öffentlichen Auseinadersetzung gemacht hatten. Doch sein Vorschlag, eine nationale Sammlungsbewegung aufzubauen, die die Funktion der abgehalfterten, verbotenen oder unbequemen Parteien einnehmen sollte, fiel weithin auf taube Ohren. Vor allem die junge Generation — über 60 Prozent der Algerier sind unter 25 Jahre alt — interessiert sich ohnehin kaum mehr für Politik, solange diese keine Änderung ihrer miserablen Lage zu bringen verspricht.

Gerade bei der Jugend, die am ärgsten unter der extremen Wohungsnot, der rasant angestiegenen Arbeitslosigkeit und dem Mangel an Lebensperspektive überhaupt leidet, fand die FIS mit ihren einfachen Parolen am schnellsten Anhänger. Es ist mehr als wahrscheinlich, daß ein FIS-Regime mit den demokratischen Rechten, die die FLN nach 29 Jahren Alleinherrschaft endlich zugestand, schnell aufgeräumt hätte. Die Etablierung eines mutmaßlich diktatorischen Regimes auf demokratischem Weg wurde über einen Putsch verhindert. Viele, vor allem Intellektuelle, Frauen und Angehörige der kabylischen Minderheit fürchteten ein islamistisches Regime. Doch die Gefahr läßt sich nicht mehr von der Hand weisen, daß der Machtantritt islamischer Fundamentalisten nur aufgeschoben wurde. Die FIS mag als politische Struktur vorerst zerschlagen sein. Doch an den Universitäten formieren sich bereits wieder Zellen neuer Aktivisten, andere haben den militärischen oder terroristischen Kampf längst aufgenommen, und an den Mauern der Moscheen erscheinen regelmäßig zweimal wöchentlich die Nachrichtenbulletins der verbotenen Organisation. Eine demokratische Öffnung können sich die Herrscher über Algerien, das in der kommenden Woche den 30. Jahrestag seiner Unabhängigkeit feiert, heute weniger denn je leisten. Und ein neuer Boudiaf ist auch nicht in Sicht. Thomas Schmid