VILLAGE VOICE
: Liebliche Lieder

■ Sema & Taksim: Weder deutsch für Türken noch türkisch für Deutsche. Sondern Musik aus Berlin.

Die Gruppe scheint prädestiniert zu sein, Multikultur zu repräsentieren. Aber schon das Wort bringt Sema in Rage. Zornig berichtet sie von Ausländerbeauftragten beiderlei Geschlechts, denen zu den verschiedensten Wochen der ausländischen Mitbürger nur einfällt, daß Sema singen könnte. Sonst nichts — und nur dann. Ihre Musik trete in den Hintergrund; allein die Tatsache, daß eine Türkin zusammen mit fünf deutschen Männern Musik macht (einer davon — welch glücklicher Zufall! — ist gar aus Ost-Berlin), wird zur Einlaßkarte auf die Bühne. Multikultur und Ost-West-Projekt! Ein Anlaß zur Freude aller Freunde der (Pseudo-)Integration.

Aber nein, mit Multikultur will die Gruppe »Sema & Taksim« nichts zu tun haben. Multikulturelle Musik, das ist ihre Philosophie, sei ohnehin eine Tautologie: die nationalen Grenzen sind für Rhythmen und Melodien längst ad absurdum geführt und gefallen. Wer sind also Sema & Taksim, die zusammen mit Charlie Mariano jetzt ihre erste CD (Ich höre Istanbul) herausgebracht haben? Eine Berliner Band. Eine Band mit Profi- Musikern, denen es allein um Können und Musik geht. Um nichts anderes.

Eine seltsame Band allerdings. Ihr Publikum ist deutsch-türkisch zu gleichen Teilen. Das deutsche Publikum meint, es sei »türkische« Musik, was da gespielt werde, und fängt garantiert nach der zweiten Tonfolge an, mit dem Hintern zu wackeln, weil's mit dem Bauch nicht klappt. Das türkische Publikum indes besteht darauf, »deutsche« Musik zu hören. »Jazz à la Turka« steht auf dem Cover — der Arrangeur der Melodien, Dieter Moritz, jedoch meint, es sei kein Jazz — und türkische Musik erst recht nicht. Was aber dann? Orientalisch anmutende Melodien werden von den klassischen Jazzinstrumenten (am Baß: Martin Lillich; Drums und Percussion: Ulli Moritz; Henning Schmied am Piano und Torsten Piper am Saxophon) begleitet. Tablas und ein Bandoneon als Begleitinstrumente werden in Ausnahmefällen zugelassen. Aber gegen ein Saz, eine türkische Langhalslaute, deren Saiten gezupft werden, wehrt sich Selma. Bloß keine Klischees türkischer Musik, bitte.

Tatsache ist jedenfalls, daß Sema uralte türkische Volkslieder und osmanisch-klassische Melodien singt, die mit neu interpretierter, sehr europäischer Begleitmusik einen eigenartigen Charme entwickeln, der klagend-traurig und rauchig-selbstbewußt zugleich ist. Mal jazzig, mal Tango-schwingend. Zwischendurch hört man den Einfluß jiddischer Lieder — und immer ist es Semas volle, warme Stimme, die einen zur Wellenfahrt der Melodien mitnimmt. Istanbul und die Liebe, die nicht für einen Platz auf der Hitliste der Pop-Eintagsfliegen und »nicht für einen Tag, sondern für die Zeit und vor langer Zeit« gemacht wurden, so Sema.

»Liebliche Lieder, ihr werdet mich verbrennen«, heißt es übersetzt im Lied Sandal — es ist die Sprache von damals. Und es sind Worte, die die Schönheit der Musik fast ruinieren (oder liegt es an der Übersetzung?). Es ist eine professionell gemachte Musik voller Schönheit, die dadurch überrascht, daß sie fremd und dennoch so bekannt klingt, ohne ihre Seele verloren zu haben. Nach einer Stunde lieblicher Lieder bekomme ich jedoch urplötzlich Lust, Sema die Dreigroschenoper singen zu hören. Angefangen hat die 36jährige nämlich mit Arbeiterliedern, und noch immer hält sie Brecht für eine »unerschöpfliche Quelle«. Petra Brändle

Sema & Taksim, Ich höre Istanbul Nebelhorn